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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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hier konnte man den Tisch nicht sehen. Ich machte einen vorsichtigen Schritt Richtung Ausgang.
    – Ja, ja, flüsterte die Tür. Komm nur. Es geht ganz leicht.
    Sie öffnete sich und ließ einen Statisten herein, als wollte sie mir demonstrieren, wie geschmeidig sie auf und zu ging, es brauchte nur wenig, und schon war man in Freiheit und konnte sich aufmachen zu Valeries Wohnung und, wer weiß, einfach mal anläuten und dann eilig etwas zusammenimprovisieren, dass sie mir gefehlt habe, ja, mitten in der Nacht, auf dem Weg hierher habe ich sogar einen Ständer bekommen, also, was ist, lässt du mich herein, oder sollen wir’s gleich hier auf der Schwelle –
    – Hier bist du.
    Lydia berührte mich von hinten an der Schulter, und mein Herz fiel zu Boden. Ein Kellner, der zufällig gerade vorüberging, hob es auf und klemmte es sich wie eine Zigarette hinters Ohr.
    – Alles in Ordnung?, fragte Lydia.
    – Ja, ja …
    – Gleich hast du’s überstanden, sagte sie leise und zärtlich. Und wenn wir zuhause sind, werde ich dich richtig verarzten.
    Sie strich mit der Hand über meinen Hintern.
    Kannst du dir das überhaupt leisten?
    Michaels unbewegter Blick wiederholte diesen Satz so lange, bis er überhaupt keinen Sinn mehr ergab. Der Kellner zog meine Bankkarte so schnell durch das Lesegerät, als wollte er eine Halsschlagader durchtrennen. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf. Die Maschine war um einen ruhigen und höflichen Tonfall bemüht:
KARTE DEFEKT? STECKRICHTUNG KONTROLLIEREN
.
    Während ich den schwarzen Datenstreifen der Karte an meinem Ärmel abwischte, lächelte ich den Kellner zuversichtlich an. Er schaute meinen Bewegungen aufmerksam zu, als sähe er darin einen tieferen Sinn.
    Ich versuchte es erneut. Wieder leuchtete das rote Lämpchen.
    – Wieder rot, sagte ich. Kann doch nicht sein. Geben Sie her.
    – Hm, machte der Kellner, dem das lange Stillstehen keinen Spaß mehr machte (der natürliche Zustand eines Kellners ist der freie Galopp).
    Ich polierte die Karte ein zweites Mal. Dann fiel mir ein:
    – Warten Sie, ich habe noch eine zweite …
    Wird das noch lang dauern?
, sagte das Gesicht von Lydias Vater mir gegenüber. Er fasste sich an die Nase, bedeutete mir irgendetwas, starrte, zwinkerte.
    Wie sieht dein Traum von Glück aus?
    Mich in Luft auflösen. Das Starren dieses alten Mannes nicht mehr sehen zu müssen. Mich in Luft auflösen, wenn ich möchte. Auf Knopfdruck.
    Ich tippte meinen Code ein. Das Gerät tat lange Zeit nichts, es schien sich an die richtige Antwort auf einen korrekt eingegebenen Code einfach nicht zu erinnern.Dann endlich fiel es ihm ein, ja, es musste
Piep!
Machen:
BETRAG BEZAHLT
.
    – Ihre Nase blutet, sagte der Kellner freundlich.
    Ich fasste hin. Meine Fingerspitze war rot. Ein Tropfen. Ich nahm eine Serviette und hielt sie mir auf die Nase.
    – Schon die ganze Zeit, sagte der Kellner und nickte ernst.
    – Hast du dich verletzt?, fragte Lydias Vater.
    Was ist deine Lieblingsverletzung?
    – Immerhin ehrenvoll, sagte ich.
    – Nein, übertönte mich Lydia, bevor ich weitersprechen konnte. Natürlich nicht.
    Dein Motto?
    Wenn die sachlichen Aufforderungen eines Geldautomaten bei weitem das Höflichste sind, was dir an einem Tag gesagt worden ist, dann war es ein beschissener Tag.
    Was denkst du in diesem Augenblick?
    Am Abend stehe ich allein in der Küche und wähle zum fünfzigsten Mal Valeries Nummer. Ich habe auch schon eine andere Nummer ausprobiert, die ich aus irgendeinem Grund mit Valerie in Verbindung bringe, aber da geht nur eine Frau ran, die Japanisch spricht. Obwohl ich nichts verstanden habe, bin ich mir sicher, dass sie mich beschimpft hat.
    Ich höre ein schwerfälliges Poltern im Flur, das jambische Taktmaß von Lydias Schritten, und lege schnell auf. Vom vielen Gehen heute Nachmittag ist ihr Bein müde und deshalb verwendet sie ihren Stock. Das untere Ende von Lydias Stock ist mit einem kleinen Gummikäppchen umhüllt, daher das Geräusch. Es soll verhindern, dass dasHolz sich allzu schnell abnutzt. Sie nimmt den Stock nie, wenn ihre Eltern zu Besuch kommen, da ihre Mutter statt
Stock
ständig
Gehhilfe
sagt.
    Lydia hinkt, seit sie achtzehn ist. Sie sagt, sie sei damals vom Balkon gefallen. Sie behauptet, sie sei gesprungen, aus Weltschmerz und Verzweiflung, aber es gibt Zeugen, die gesehen haben wollen, wie sie sich schief aufs Geländer gesetzt hat, mit einer Haarbürste in der Hand, und erst nach viel Gezappel und Geschrei langsam nach hinten gekippt

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