Die Frequenzen
das Büro von Herrn Zmal, dessen Stimme immer irgendwo zu hören gewesen war. Er erinnerte sich daran, Achsen eingezeichnet zu haben. Und eine quadratische Gleichung war aufgetaucht, geheimnisvoll wie alle Gleichungen, ein rätselhafter Fingerzeig aus einer anderen Welt, einer Unterwasserweltmit korallenartig wehenden Implikationen, die einen immer im Kreis herumführten.
Von einem Fenster der neuen Wohnung sah man noch immer die Konturen eines vor Jahren verschwundenen Riesenrades im Himmel. Wenn es Abend wurde, war es besonders deutlich zu sehen. Die kleinen, verzauberten Fahrkabinen schaukelten hin und her, Glockenblumen, mit denen der Wind spielte. Und jede Kabine war von der nächsten gleich weit entfernt. Man konnte jahrelang im Kreis fahren, aber man kam den anderen niemals näher, keinen Zentimeter. Man blieb genau, wo man war, auch wenn man einmal um die ganze Welt gefahren war und den Horizont auf und nieder gehen gesehen hatte wie den Vorhang eines weit entfernt stattfindenden Theaterstücks.
Messerschmidt mochte das Riesenrad, auch wenn es längst verschwunden war.
Endlich ließ der Lampion ihn los, und er war zurück in der alten Wohnung. Ein unangenehmer Geruch ging durch seinen Kopf. Er versuchte sich gegen sein unerwünschtes Eindringen zu wehren, aber es half nichts, der Geruch durchspülte ihn und es war unmöglich, ihn nicht wiederzuerkennen.
Schaufensterpuppen sind dazu da, uns an den Anblick abgetrennter Köpfe und Gliedmaßen zu gewöhnen; damit wir nicht jedes Mal schreiend davonlaufen, wenn wir sie im wirklichen Leben antreffen. Verrenkungen, Amputationen, verstümmelte Unfallopfer – wir denken dann automatisch an Mode, die neuesten Herbstfarben und die beruhigende Hintergrundmusik in einem Kaufhaus.
Walter stand zwischen dichten, drehbaren Gebüschen aus Kleidung. Der frische Geruch von nie getragenen Hosen. Seine Finger glitten über den Stoff. Er fühlte sich entsetzlich. Nachdem er Alexander getroffen hatte, war er mehrere Tage nicht aus dem Haus gegangen. Jetzt war er zum ersten Mal wieder draußen, im Schutz einer teuren Boutique.
Er fühlte sich schuldig, und die harmonische Stimme von Jeremias Lengel spukte durch seinen Kopf.
Diese Hose fühlte sich angenehm an, aber dann kamen welche, bei denen sich seine Haare aufstellten. Filzig rau. Er fragte sich, woher dieses Ekelgefühl bei der Berührung bestimmter Oberflächen komme, was für eine evolutionäre Begründung es dafür wohl geben mochte. Kratzspuren auf Baumrinden. Verletzungsgefahr, automatisch entdeckt von sensiblen Fingerkuppen. Oder es hatte überhaupt keinen Sinn und war einfach nur da.
Nur aus Neugier sah er sich ein Preisschild an. Dreistellig. Und das für eine einfache Hose!
Trotzdem wollte er sie anprobieren, nur um zu sehen, was er verpassen würde. In der Umziehkabine war es dunkel. Er entdeckte eine niedrige Designerlampe, trat näher und zog die Spülung.
Weiches Licht ergoss sich über seine Beine, wie der Wasserstrahl einer Dusche in einem Hotelzimmer, das vorher von einem Zwerg bewohnt worden ist. Er zog seine Hose aus, hängte sie über einen Bügel. Da die Hose, die er probieren wollte, etwas zu eng war, hatte er Schwierigkeiten, in die Hosenbeine zu steigen. Er fesselte sich selbst und kippte in der engen Umziehkabine zur Seite. Als er gegen den Spiegel stieß, hinterließ er mit der Wange einen hässlichen fettigen Fleck.
Er war ekelhaft, er war verabscheuenswert.
Eine Weile überlegte er, ob er einfach so, mit der viel zu engen Hose um die Beine, aus dem Geschäft gehen sollte. Verdient hätte er es ja: aufgehalten und geschnappt zu werden, angeklagt zu werden. Was würde sein Vater sagen, was seine Mutter. Und Mirja mit ihrem stumpfsinnigen Komplizenblick.
Sie alle würden mit dem Finger auf ihn deuten, und sie hätten auch noch Recht damit.
Er stand da, einsam in der Kabine, und Tränen rannen ihm über die Wangen, ohne dass er gerade welche gebrauchen konnte. Er trocknete sie an seiner eigenen Hose, die sich ihm wie ein Handtuch anbot.
Mistkerl, sagte er leise. Sein Gesicht im Spiegel sagte dasselbe, untermalt von einer hässlichen Fratze.
Er wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte, dann zog er sich an, legte die viel zu teure Hose ordentlich zusammen und hängte sie zurück an den Metallast, von dem er sie gepflückt hatte. Er verließ die Boutique, niemand hielt ihn auf, niemand schlug ihn nieder. Obwohl er es verdient hätte. Nur sein eigener Schatten folgte ihm: ein hässlich
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