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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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wie er das Licht der Deckenlampen spiegelte.
    – Man gewöhnt sich daran, oder?
    – Ja, sagte ich.
    – Aha, sagte er.
    Ich ballte meine Hand, die noch immer auf der Tischplatte lag, zu einer Faust, die Fingernägel gruben sich in die Hautrunzeln der verschwitzten Handfläche. Jeder konnte sie sehen: Hier lag eine Faust. Ich starrte mein Gegenüber an, bohrte ihm mit meinem Blick ein mikroskopisch kleines Loch in das braune Muttermal, das sich unter seinem Auge befand und in Form und Farbe an ein winzig kleines Wespennest erinnerte, und stellte mir vor, wie sich ein stumpfer, runder Gegenstand, eine Billardkugel etwa oder eine Mingvase, durch seine Nase schob, so wie in dieser schrecklichen Szene aus
Total Recall
, bis die Nase zu platzen drohte und mit ihr das halbe Gesicht –
    – Ich wollte dich persönlich zu meiner Hochzeit einladen. Einfach weil ich …
    – Sicher, natürlich, warum nicht.
    Ich sprach so laut, dass der Raum wieder ein wenig Stille brauchte, um nicht in Flammen aufzugehen.
    – Ja, ich kann mir schon denken, dass das abhärtet, sagte er verloren.
    – Sicher, sagte ich.
    – Der Tod ist ja, begann er wieder zu sprechen, im Grunde nur eine Art unglücklicher Zustand, unverstanden und schwierig … Aber wenn man bedenkt, wie viele Transformationen eine Pflanze durchmachen muss, weil … also allein, wenn sich ein Blatt vom Baum löst,dann ist es technisch gesehen ja schon tot, zumindest ist es mit Sicherheit gestorben …
    Er sprach, indem er seinen Mund, seine Lippen und die Zunge bewegte. Alle Menschen taten das so, aber ich hasste ihn dafür. Sein weißes Haar war ordentlicher und strenger gescheitelt als früher, und er trug eine große Brille in dem unangenehm vertrauten Gesicht, das aussah wie das einer Maus, die ihr halbes Leben als Wärter in einem Gefängnis gearbeitet hat.
    Er begann von einer Reise zu erzählen. Gerade sei er von einer
kleinen Entdeckungsfahrt
nach Südamerika zurückgekommen, die ihm geholfen habe, gewisse religiöse Krisen zu überwinden. Ich saß vor meinem Glas, tauchte hin und wieder einen Zeigefinger in das Wasser, um die Temperatur zu prüfen. Er hatte sich seinen zweiten Kaffee bestellt. Er ertränkte gerade ein Zuckerstück mit gnadenlosen Paddelschlägen seines Löffels, als er sagte:
    – Ich hab wirklich erfahren, was Leiden bedeutet … weißt du, in Mexiko, da gibt es ein Grenzgebiet, wo immer wieder jede Menge Frauen verschwinden … und zu Beginn habe ich gedacht, in Ordnung, Frauen, dann kann ich mich dort also mehr oder weniger gefahrlos bewegen. Allerdings habe ich mich geirrt. Mir ist zwar nichts passiert, aber –
    Ich verschluckte mich an meinem Wasser, um mir das Ende der Geschichte zu ersparen. Während ich prustete und mit offenem Mund nach Luft rang, langte er plötzlich über den Tisch und klopfte mir auf den Rücken, sehr fest, natürlich, warum sollte er sich zurückhalten. Als ihm klar wurde, was er da gerade tat, warf er einen ungläubigen Blick auf seine Hand und sank zurück auf seinen Platz. Auch ich war ein wenig perplex.
    Aber es hatte funktioniert, er wechselte das Thema.
    – Ich war übrigens auch in den Staaten, nur kurz, in New York, weil es mir wichtig war, die Kehrseite der Medaille zu sehen.
    – Ja.
    Falls ich es noch nicht erwähnt habe: An meinem Körper gab es zwei Sprengsätze, zwei Telefone. Eines in meiner linken Jackentasche, worin es lässig baumeln konnte, ein mechanischer Tourette-Patient in der Hängematte, das andere in der Gesäßtasche, ein wenig kleiner als das andere und farblos.
    Das Telefon, mit dem ich mich anrufen wollte, durfte natürlich keinerlei Geräusche verursachen (viele Modelle geben nach dem Wählen der Nummer ein bestätigendes Piep-Signal von sich) und musste außerdem mit einer Vorrichtung ausgestattet sein, die blindes Wählen erlaubt. Glücklicherweise können Mobiltelefone heutzutage alles; nur an einen eingebauten PEZ-Spender oder an eine kleine Öffnung zum Produzieren von Seifenblasen hat noch niemand gedacht.
    Das Café bot ausreichend Hintergrundlärm, sodass mein heimlicher Griff in die Gesäßtasche und das Drücken der Kurzwahltaste unbemerkt bleiben konnte, wann immer ein Anruf notwendig werden sollte.
    Die Notwendigkeit ließ nicht lange auf sich warten.
    – Also, ich stell mir vor, dass es da draußen etwas gibt, sonst wäre ja alles umsonst. Also, dass sich auf anderen Planeten irgendwie … etwas befindet, was immer das bedeuten mag …
    – Sicher.
    Geduld bei 22%.
    –

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