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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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kann, niese ich schnell.
    – NIETZSCHE!!
    Er schaut mich verblüfft an. Ich halte eine Hand vor meine Nase, ah, und gleich muss ich noch einmal niesen.
    –
NIETZSCHÄÄH!!
    Ich krame mit einer Hand in meiner Jackentasche nach einem Taschentuch, ich finde keines, die andere Hand halte ich währenddessen unter meine Nase. Auch in meiner Hose findet sich kein Taschentuch, vielleicht gibt es hier irgendwo Servietten. Ich sehe mich hilflos um.
    Ich blicke in das große, ausdruckslose Gesicht meines Vaters. Er ist im Begriff, etwas zu sagen, das die Situation retten könnte. In seiner Hand hält er ein zitterndes Billet.
    Die Rettung! Ich nehme es ihm aus der Hand, halte es dankbar hoch, dann stehe ich auf und verlasse das Lokal.

Warerie
    Der Kopf, unter dem der Rest seines Körpers lag, wirkte seltsam deplatziert und verwittert, wie ein altes Schiff, das in einer Baumkrone festsitzt, oder eine alte Windmühle auf einem Berggipfel. Sein Gesicht bedeckte der Bart eines Seemanns, von dem man annehmen musste, dass er irgendwann das ganze Gesicht überwuchern würde, wenn man ihn nicht wöchentlich mit einer kleinen silbernen Schere zurechtstutzte, die wie ein ferngesteuerter Kolibri um seinen Kopf zwitscherte:
Schnippschnippschnipp
.
    Das Telefon läutete. Mitsuko legte die Schere auf den kleinen Metalltisch, der neben dem Bett stand, und ging ran. Die Stimme am anderen Ende der Leitung sprach sehr aufgeregt und viel zu schnell, alles zerfiel zu deutschem Gemurmel, und bevor Mitsuko darum bitten konnte, das Gesagte zu wiederholen, legte die Anruferin auf. Aber Mitsuko glaubte zu wissen, wer angerufen hatte, und wählte die Nummer. Es war dieselbe aufgeregte Stimme.
    – Hallo, sagte Mitsuko. Ikabe niet vestanden vohin.
    – Oh … oh … oh, wiederholte die Stimme. Ja. Valerie. Valerie ist. Gestorben. Tot. Ein Unfall. Ein Unfall.
    Mitsuko dachte zuerst, dass das nun doch ein wenig
zu
langsam war – so begriffsstutzig war sie auch wieder nicht. Dann erfasste sie den Inhalt der Nachricht und wandte sich blitzschnell um, als würde sie erwarten, dass der Alte plötzlich hinter ihr stand.
Mit wem telefonieren Sie da?
    – Oh Gott, sagte Mitsuko. Nein, oje!
    – Ja, sagte die Anruferin.
    Dann gab sie noch einen unartikulierten Klagelaut von sich und legte auf. Sie schien es sehr eilig zu haben. Man musste das verstehen, dachte Mitsuko. Sie wusste noch,wie sich ihre Eltern nach dem Tod ihrer kleinen Schwester verhalten hatten. Wenige Worte wurden gewechselt, sie ging überallhin mit und sie nahmen sie sogar bei der Hand, aber in jeder Bewegung lag eine unerklärliche Spannung und Hektik, als wäre diese Berührung, diese Handlung momentan genau das Falsche. Als wäre völliger Stillstand das Einzige, was einigermaßen erträglich war.
    Mitsuko hatte begonnen, vor sich hin zu murmeln.
    In der großen, einsamen Wohnung, in der sie ganze Tage zubrachte, ohne mit jemandem reden zu können, der ihr halbwegs vernünftige Antworten geben konnte, bemerkte sie oft gar nicht mehr, wann sie laut sprach. Anfangs hatte sie noch Radio gehört, aber es gab nur einen einzigen Sender, der hin und wieder halbwegs vernünftige Musik spielte, also war sie lieber wieder zu der hohen, alten Stille europäischer Zimmereinrichtungen zurückgekehrt. Sie summte dem Alten oft selbst komponierte Melodien vor und kommentierte sie hinterher mit ein paar einfachen Worten. Außerdem hatte sie von seiner Tochter die Erlaubnis erhalten, in einem der hinteren Zimmer mit der Snare Drum zu üben.
    Erlaubnis. Tochter.
    Mitsuko war murmelnd zu dem Alten zurückgekehrt. Eine Welle von Mitgefühl erfasste sie; sie lehnte sich nach vor. Dieser arme, alte, ururalte Kopf, dachte sie. Diese seltsame Silbe
Ur
, deren exakte Bedeutung in anderen Sprachen nicht existierte. Diese zotteligen, weißen Haare.
    Ein Unfall. Tot.
    Da sie nicht wusste, was sie tun sollte, begann sie ihm auf Japanisch von ihrer kleinen Schwester zu erzählen. Akako, das Mädchen mit dem rötlichen Schimmer in ihren Pupillen. Dann die Trennung der Eltern kurz nach ihrer Geburt. Sie hatte dem Alten schon oft davon erzählt,und das Geschehene tat längst nicht mehr weh. Aber sollte sie ihm das mit dem Anruf sagen? Es hatte kein Verbot gegeben, keine ausdrückliche Anweisung,
warten Sie, bis ich bei Ihnen bin
. Nein, es war bestimmt niemand hierher unterwegs. Warum auch? Es war ihre Aufgabe. Sie zögerte noch. Vielleicht machte sie sich dadurch irgendwie strafbar. Man wusste ja nie, die Gesetze in einem

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