Die Frequenzen
Versuchsgelände
Telefonsex
Briefe an den Weihnachtsmann beginnen aber nicht zu Ende schreiben
Jemanden für Geld umbringen
Mich als Indianer verkleiden
Einen Clown auf die Wange küssen
Einen Clown in meine Wohnung lassen
Schminke auftragen
Ein Stück Kreide durch die Zähne ziehen
Freiwillig irgendwelche Listen schreiben. Malen. Kindern die Zeit vertreiben. Gerald ist immer öfter bei mir, ganze Nachmittage, wenn seine Mutter keine Zeit für ihn hat. Was sie dann tut, weiß ich nicht. Jedenfalls scheint sie das Recht zu haben, jederzeit ein Time-Out zu nehmen.
Was passieren würde, wenn man sie nicht in Ruhe lässt, weiß niemand, und Gerald will nicht darüber reden.
Vor zwei Tagen lag ein Dankbrief von Jessica Katzek vor der Tür.
Gerald hat sehr helle, bleiche Haut, obwohl er meist draußen ist.
Ich fragte ihn vorsichtig nach seinem Vater.
– Davon gibt’s viele, sagte er fachmännisch und erwachsen.
Er schreibt an einer Liste seiner Lieblingshelden aus dem Fernsehen. Er ist schon bei Nummer zweiundzwanzig.
Hinterher werden die meisten Listen vernichtet, so wie es das Anti-Stress-Buch von Lydia vorschlägt.
Schreiben Sie eine Wunschliste und vernichten Sie sie anschließend. Das befreit. Von Wünschen. Vom bevorstehenden Nichtin-Erfüllung-Gehen der Wünsche. Und außerdem vergeht Zeit, wenn Sie es aufgrund einer unglücklichen Schicksalsfügung vorziehen, auf ein fremdes Kind aufzupassen, weil es Sie ablenkt von Ihren Dämonen, die Sie zu zerreißen drohen, weil alles hoffnungslos und entsetzlich ist
.
– Du und deine Mutter, ihr unternehmt nicht viel, oder?, frage ich.
Meine Liste ist schon fast fertig. Irgendwas fehlt noch, aber das ist egal. In der Anleitung steht nichts von Vollständigkeit.
– Früher, sagt Gerald, sind wir andauernd zu diesemLandfriedhof gefahren, ganz weit weg, irgendwo in der Pampa. War fast schon kein Friedhof mehr. Und die ganzen Grabsteine alle irgendwie umgefallen. Alles verdreckt und kaputt.
– Warum denn das?
– Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil da sonst niemand ist.
– Nein, ich meine, warum seid ihr da früher immer hingefahren?
– Weil da die ganze Familie liegt. Alle Verwandten.
– Da hast du dich bestimmt gelangweilt.
– Hm.
– Kein wirklich lustiges Ausflugsziel, ein Friedhof.
Ich habe gar nicht bemerkt, wie kalt es inzwischen im Zimmer geworden ist. Ich stehe auf und bewege mich ein wenig. Vielleicht wird mir dann wärmer.
Landfriedhof. Sonst niemand
. Ich schaue Gerald an, der über seiner Liste hockt, dann verfängt sich mein Blick im abendschwarzen Fenster.
– Mein Gott, Gerald, du müsstest doch längst zu Hause sein. Wie spät ist es?
– Alex?
– Ja.
– Ich hab keine Uhr.
– Wieso nicht?
Gerald schaut mich nicht an.
– So eine dumme Frage, sagt er.
– Und meine Uhr ist kaputt, deute ich entschuldigend auf mein Handgelenk, obwohl das natürlich gelogen ist.
– Alex?
– Komm, zieh jetzt deinen Mantel an …
– Alex!
– Was denn?
– Soll ich dir meinen Tanzschritt zeigen?
– Morgen, okay? Du kannst morgen wieder vorbeikommen, aber jetzt gehst du nach Hause.
– Der geht so … Warte! Hab ich in einer Fernsehsendung gesehen, einer Casting-Show …
– Gerald, komm jetzt –
– Zuerst mit den Füßen ganz schnell trippeln, dann eins – zwei – drei –
Gerald macht drei große Schritte, wie ein Riese, der über ein Minenfeld geht.
– Und dann – bumm!
Er lässt sich auf die Knie fallen. Er bleibt einen Augenblick in gekrümmter Haltung auf dem Boden, als würde er darauf warten, dass der Schmerz vergeht.
– Gerald, steh auf, sage ich und helfe ihm.
Er hält sich an meinem Unterarm fest. Seine Hose ist an den Knien schon ziemlich abgewetzt.
– Ich möchte es irgendwann einmal so hinkriegen, dass es nicht mehr wehtut, als würden die Knochen da unten brechen. Weißt du, was ich meine?
– Ja, sicher, aber wir müssen jetzt –
– In der Nacht ist draußen immer Musik!, unterbricht er mich aufgeregt. Hast du das gewusst?
– Musik, aha …
Ich weiß, dass im obersten Stockwerk ein Jazzfanatiker wohnt, ein älterer Mann mit dichtem Bart. Ich habe mich nur ein einziges Mal mit ihm unterhalten. Bei ihm läuft den ganzen Tag laute Musik, manchmal auch spätabends.
– Ganz wild und durcheinander, sagt Gerald.
Er schwankt beim Gehen.
– Immer schön Gleichgewicht halten, sage ich und sperre die Tür auf.
Gerald hält immer noch seinen Mantel in der Hand, und natürlich ist es egal, ob er
Weitere Kostenlose Bücher