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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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diesmal untrennbar verfangen war. Sich zu lösen stand nicht mehr zur Debatte. Selbst wenn er es versucht hätte, wäre es ihm nicht gelungen.
    Weit entfernt hörte er jemanden aufgeregt und mit starkem Akzent in einen Telefonhörer brüllen.
Schnell, einen Krankenwagen
.
    Es beunruhigte ihn nicht weiter. Es war wie das Kratzen einer Grammophonnadel zur Musik einer herzzerreißenden Symphonie. Die Tabaktrafik kam in Sicht, er konnte es nicht glauben. Es war alles echt. Er hatte Angst, obwohl er nichts fühlte.
    Mitsuko fühlte sich unendlich alleingelassen, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Wie schwer konnte es in diesem Land sein, einen Rettungswagen zu rufen? Hatte sie sich denn so undeutlich ausgedrückt? Zum Teufel mit all den Telefonen.
    Sie streichelte dem alten Mann, mit dem sie nie gesprochen hatte und von dem sie nicht wusste, ob er ihre Anwesenheit jemals wahrgenommen hatte, dreimal über den Kopf. Obwohl sie ihn, genau genommen, überhaupt nicht kannte, weder seine Gedanken noch seine Träume noch Einzelheiten seiner Vergangenheit, wollte sie nicht, dass er starb. Natürlich wusste sie, dass sie nichts dagegen tun konnte und dass es vielleicht das Beste für ihn war, in diesem elenden Zwischenzustand, in dem er sich nun schon so viele Jahre befand, aber es ging ums Prinzip. Und das Prinzip hieß: Niemand auf dieser Welt hatte es verdient zu sterben.
    Plötzlich war die Hündin nicht mehr zu sehen. Sie war in ein Gebüsch getaucht und hatte ihn abgeschüttelt, denn das Gebüsch hatte nichts mit ihm zu tun, und da stand er nun und war ganz allein. Doch das Gefühl der Anziehung, sich verheddert zu haben, war geblieben, auch wenn die Quelle jetzt eine andere war – ein altes Trafikgebäude, daswie ein verschrumpeltes Pförtnerhäuschen auf einem kleinen grünen Hügel neben der Straße stand. Messerschmidt spürte eine große Wärmequelle jenseits des kleinen Häuschens mit dem vor langer Zeit erloschenen Zigarettenschild; es war so etwas wie eine Verwerfung im normalen Ablauf der Ereignisse.
    Menschen, die lachten.
    Menschen, die sich pausenlos berührten.
    Und wie bei einem Luftballon, den man an einem Wollpullover reibt, erzeugten die vielen, vielen Berührungen und Stimmübungen jenseits des kleinen Häuschens eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Sie war so stark, dass Messerschmidt für den Bruchteil einer Sekunde die beunruhigend deutliche Illusion einer Armbanduhr auf seinem linken Handgelenk hatte, durch die so etwas wie Fahrtwind strich.
    Wie viel Zeit blieb ihm?

Da Nuces
    Meine generelle Befindlichkeit: relativ entspannt. Keine Zwangsvorstellungen, keine langen Monologe zum Ausgleich eines wachsenden Schwindelgefühls. Nur die Nacht davor, vor dem großen Tag, ist beherrscht gewesen von einem schweißtriefenden Prüfungstraum. Aber sonst alles in Ordnung.
    Ich sitze vor dem Schreibtisch des Prüfers. Er hat das Gesicht und den Hut von Joseph Beuys. Die Prüfungsfragen liegen vor mir. Da es keinen Stift gibt, muss ich wohl mündlich antworten. Während ich etwas sage, wiegt sich der Prüfer in seinem großen Bürosessel hin und her. Er dreht sich zum Fenster, durch das man den Hof und einen Teil einer großen Wasserrutsche sehen kann. Offensichtlich denkt er an etwas anderes.
    – Aha, sagt er auf alle meine Antworten. Ja, aha.
    Dabei sieht er immer aus dem Fenster, ein wenig verträumt, vielleicht auch sehnsüchtig. Ich warte, weil ich das Gefühl habe, dass er mir nicht mehr zuhört. Er dreht sich zu mir und zeigt mit dem Daumen (dick, beringt) auf das Prüfungsblatt:
    – Versuchen Sie einfach –
    Aber schon dreht er den Kopf wieder zum Fenster. Leises Kindergeschrei von der Wasserrutsche. Die nächste Antwort scheint er gar nicht mehr zu hören, er steht auf und geht im Zimmer herum. Er berührt im Vorbeigehen mit den Fingerspitzen wie zum Abschied einige Dinge. Dann geht er durch die offene Tür auf den Gang hinaus. An einem der großen Fenster bleibt er stehen, faltet die Hände auf seinem Rücken. Ich folge ihm und will ihn ansprechen, aber sein Nacken kommt mir plötzlichauf unheimliche Weise bekannt vor, sehr intim und vertraut.
    Ich gehe, peinlich verwirrt, zurück ins Zimmer. Von der Rutsche her kommt lautes Geschrei, dann hört man die Sirene eines Rettungswagens.
    Lange kann ich mich nicht bewegen. Ich wälze mich im Bett herum. Dann setze ich mich an den Bettrand, auf das weiße T-Shirt, das ich in der Nacht abgestreift habe. Um ein wenig Mut zu schöpfen, höre ich mir auf

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