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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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zwischen den Generationen, geworfenes Geschirr, vor dem Kamin weinende Silhouetten und Telefonanrufe von fremden Verwandten mit kleinen, aufgeregten Stimmen.
    Das alles ist für ihn bestimmt, als Ablenkung, eine Theateraufführung über ein in der Luft liegendes Thema. Und erst als sein großer, verwitterter Kopf sich vollständig zurückgezogen hat ins Dickicht braun werdender Äste, beginnt die Mutter (im sanften Delirium verwechselt er sie mit dem Föhnwind, der seine Glieder berührt hat, auf der Wiese neben der Autobahn, wo er aufgewachsen ist), ihm den Schmuck abzunehmen. Sie entfernt jedes Stück einzeln, so wie man einen toten Präsidenten entkleidenwürde, sie säubert ihn von den traurigen Storchennestern aus Lametta, kehrt die Nadeln zusammen, die er im Todeskampf auf den Teppich geschwitzt hat. Auf seiner letzten Fahrt ist er längst nicht mehr ansprechbar. Niemand singt, niemand sagt kleine Sprüche oder Gedichte auf. Man legt ihn auf die Ladefläche oder bindet ihn auf das Dach des Autos, um mit ihm in den Wald zu fahren, wo man ihn endlich seiner Vergangenheit zurückgeben wird. Wenn er Glück hat, bekommt er es noch mit, bevor er blind und erschöpft auf den schwarzen, vor Regen nassen Haufen seiner Kameraden fällt.
    Seit Anfang des Winters war ich nicht mehr aus dem Haus gegangen. Draußen war es kalt und ich hatte keine Lust, mir mehrere Lagen Kleider anzuziehen. Das bevorstehende Weihnachtsfest kündigte sich bereits im Oktober an, in Supermärkten und Schaufenstern, und das alles stimmte mich traurig.
    Zur Ablenkung machte ich kleine Dinge kaputt. Eine Fernbedienung, eine Uhr, einen tragbaren CD-Player. Und ich aß Schnee vom Fensterbrett, weil ich hoffte, mich zu erkälten, mir eine hartnäckige, aber ungefährliche Krankheit zuzuziehen.
    Auch in der Schule wurde ich schwächer, ein Jahr vor der Matura. Als ich eines Tages vor Desinteresse gar nicht mehr aus dem Bett kam, blieb meiner Mutter wohl nichts anderes übrig, als Verstärkung anzufordern. Meine Großeltern erklärten sich bereit, eine Weile bei uns zu wohnen.
    Mein Großvater war, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, ungewöhnlich aus der Form gegangen. Er war jetzt so dick, dass er unmöglich auf einen Toilettensitz passen konnte, und ich grübelte lange nach, wie er sichseine Schuhe zubinden mochte, und fand keine Antwort. Sein Gang wirkte wie der Ausdruckstanz zu einer melancholisch blubbernden Melodie auf der Bassklarinette. Ein dicker Mann ist immer etwas Witziges, und tatsächlich lachte ich den ganzen ersten Abend, als wir zusammen beim Essen saßen (ich war tatsächlich wieder aufgestanden!). Es war wie ein Slapstick-Stillleben. Ganz im Unterschied zu der Erscheinung meiner Großmutter: Eine dicke Frau ist immer etwas Ernstes, etwas Folgenschweres. Ein Ergebnis, keine Pointe. Ein an irgendeiner Stelle schiefgegangenes Experiment. Ihr dicker Körper verlieh ihr eine ungewöhnlich tiefe Stimme, vor der ich mich anfangs fürchtete. Eines Tages hörte ich sie abends beim Zähneputzen gurgeln und flüchtete entsetzt in mein Zimmer.
    Meine Großmutter trug immer dasselbe dunkelblaue Jäckchen, von dem große, ovale Knöpfe perlten. Diese Knöpfe berührte sie ausschließlich mit den Fingerspitzen, als wären sie sehr kostbar und zerbrechlich; und wenn man sie einmal einen ganzen Tag lang beobachtete, konnte man nicht umhin zu bemerken, dass die Knöpfe sie genauso zärtlich behandelten wie sie die Knöpfe. Als sie bei uns einzog, stellte sie als erstes ein Bild ihres Vaters auf ein Fensterbrett. Niemand hatte etwas dagegen. Sie musste es um sich haben, auch wenn sie verreist war. Das Bild, das einen Mann mit strengem Blick und einem weißen Auge zeigte, hatte schon viele Hotelzimmer gesehen. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, nahm meine Großmutter das Bild vom Fensterbrett und drückte es an sich, als wollte sie ihm die Brust geben.
    Wir wohnten seit einiger Zeit nicht mehr im Haus (der Riss erschien uns, da mein Vater nicht mehr da war, als zu unberechenbar), sondern in einer billigen, kleinen Wohnung mitten in der Stadt. Die Wohnung gehörte zu einem alten Mietshaus, in dessen Hinterhof eine Menge Glas lag. Glassplitter. Wer weiß, woher es stammte.
    Manchmal zerbrach ein Stück Glas, wenn eine Katze oder irgendein anderes nachtaktives Tier über den Scherbenhaufen stieg. Das mürrische Knirschen des Glases weckte mich oft aus dem Halbschlaf und brachte letzte Sequenzen von bedeutungsvollem Unsinn mit an die

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