Die Frequenzen
seitzwei Tagen, ein ehemaliger Lehrer war gestorben. Ich kannte ihn nicht und auch die meisten Junglehrer wussten von Professor Leitgeb nur, dass er früher an unserer Schule Mathematik und Deutsch unterrichtet hatte. Er war im Stadtpark tot aufgefunden worden, in der Nähe des Spielplatzes. Manche besonders gut informierten Schüler munkelten, man habe ihn
auf
dem Spielplatz gefunden, in der Nähe der Schaukeln. Angeblich war sein toter Körper nach dem Herzinfarkt einfach so auf dem kleinen Schaukelbrett sitzen geblieben, die Arme in die Seile verwickelt, und der Wind hatte ihn sanft hin und her – nein, von Wind war keine Rede, das kam mir nur so in den Sinn, weil es mich zum Lachen brachte. Der Wind, der das spärliche graue Haar auf dem Kopf des toten Lehrers zaust. Der Windstoß, der ihm die Brille vom Gesicht bläst. Und die Brille, endlich befreit von ihrer Knechtschaft, flattert im Aufwind davon, wird zu einer kleinen spindeldürren Krähe und verliert sich über den Dächern der Stadt.
Der Lehrberuf. Mein Vater hatte ihn rechtzeitig aufgegeben, sagte ich mir. Rechtzeitig. Man gab Dinge, die einem die Luft zum Atmen nahmen, rechtzeitig auf. So machte man das. Bahnübergang. Skimaske. Krummer Pistolenlauf.
Ich riss mich zusammen und dachte an den toten Lehrer, den ich nie kennen gelernt hatte, mit einem leisen Gefühl von Mitleid, das gleich wieder verschwand. Ich konzentrierte mich, aber es half nichts, das Gefühl kam nicht zurück. Ich sah wieder nur seine hagere Gestalt, die windbewegt im Stadtpark den Geist aufgibt, und die kleine, eifrig flatternde Brille, die es sehr eilig hat, vom Ort des Geschehens zu entfliehen.
Später sah ich in der Aula, in der eine Menge Fotografienhingen, die von den Sporterfolgen der Schule zeugten oder andere feierliche Anlässe dokumentierten, eine Aufnahme von Professor Leitgeb. Er sah ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Vor allem besaß er keine Brille, auch war sein Haar nicht schütter und erst recht nicht grau. Er war ein Mann mit dichten, schneeweißen Haaren, kräftig und energiegeladen. Er schaute mit zuversichtlichem Blick direkt in die Kamera, als könnte ihm das Blitzen doch keine Angst machen, und hinter ihm standen die Schüler eines Maturajahrgangs, die ihre verschiedenen Gesichter-zu-feierlichen-Gelegenheiten schnitten: Augen geschlossen, übertriebenes Grinsen, verschlafenes Gesicht mit halb geöffnetem Mund, trostloser Hundeblick, Flittchen, Angsthase ohne Zukunftsperspektive. Die Kamera tut mir doch nichts, Mama? Schießt doch nicht, oder? So, jetzt stillhalten. Wohin so eilig. Skimaske. Das Grinsen darunter, nur eine Falte im Stoff.
Staffellauf
Wilhelm Steiners Frau war Trafikantin gewesen, in einem kleinen Häuschen neben einer viel befahrenen Straße. Das Häuschen erinnerte in seiner Form ein wenig an den Uhrturm, das Wahrzeichen der Stadt, denn es hatte ein auffallend spitzes Dach. Sie hatte nicht weit zur Arbeit, man konnte den Weg ohne Mühe zu Fuß gehen, aber als es ihr schlechter und schlechter ging, nahm sie jeden Tag den Bus. Gegen Ende ihres Lebens musste er sie überallhin begleiten, da sie ständig umzukippen drohte, ihr Gang war unsicher und schwankend, und hätte er ihr nicht eines Tages einfach seinen Arm als Gehhilfe angeboten, wäre sie wohl auf einen Stock angewiesen gewesen.
Der Kopf, der schwindlige Kopf. Alles ging vor die Hunde.
Die Erinnerung an den Hund, den er verjagt hatte, durchfuhr ihn; er blieb stehen, sah sich um. Irgendwo lauerte der Köter vielleicht noch. Was war das da hinten? Ein dunkler Fleck, ein –
– He!
Der Junge hatte nicht gehört, woher der Ruf gekommen war. Er flüchtete schnell vom Tatort, passte allerdings nicht auf, wohin er rannte, und stieß sich seinen Kopf an der Stoßstange des Rennwagens auf Steiners T-Shirt. Steiner drängte den Jungen zur Seite und bückte sich über das am Boden zappelnde Tier. Der Igel war an der Seite verwundet, Teile der Wunde klebten am Asphalt fest. Der Junge ließ den Stock fallen und wollte davonrennen, aber er rutschte auf den nassen Blättern aus. Er hielt sich am Geländer einer kleinen Brücke fest. Steiner drehte sich zuihm um und schubste ihn über das Geländer. Es war ganz leicht.
Dann wandte er sich wieder dem Igel zu. Die Todesangst hatte ihn aus seiner Sicherheit gelockt, und er versuchte mit seinen kurzen Beinen, seinen halb zerschmetterten Körper fortzuschleppen. Aber es gelang ihm nicht. Herr Steiner sah sich das Schauspiel eine
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