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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Oberfläche. Die Autoentführung lief dabei in unermüdlichen Variationen immer wieder von Neuem ab.
    Der seltsame Moment, da der Entführer bekommt, was er will, und endlich die Autotür aufstößt und aussteigt. Stille. Freiheit. Die Welt existiert mit einem Schlag wieder. Es gibt Geschäfte und Straßennamen, Verkehrsschilder und Menschen. Aber er, der Entführte, kann nicht mehr in diese Welt zurück. Er blickt verwirrt auf das Armaturenbrett, betastet den Hebel der Handbremse, auf dessen Unterseite ein getrockneter Kaugummi klebt, und schaltet nach ein paar misslungenen Versuchen, mit seinem käsig weißen Gesicht im Rückspiegel zu sprechen, das Radio ein. Und tatsächlich funktioniert es noch, es hat den Weltkrieg offenbar überlebt, sendet weiter Musik und Kommentare, darunter auch ein paar bekannte Melodien, die man wie im Traum mitpfeifen kann. Natürlich, sie stammen zwar aus einem anderen Jahrhundert, einem fernen Jahrhundert des Friedens, aber vertraut sind sie doch.
    Der Moment, da man einsam ist, unendlich weit entfernt von den zwei Menschen, die einen retten könnten, an einem Bahnübergang steht, und vielleicht übertönt der vorüberdonnernde Zug die albernen und pathetischenHilfeschreie, die man in die eisige Winterlandschaft ausstößt, und im Auto winkt eine kleine Handfeuerwaffe:
Komm wieder ins Auto, los, einsteigen … aber schön langsam

    Der Moment, da man gefragt wird:
Wie ist dein Name?
Und man antwortet, nennt den Familiennamen, den Namen der Familie, die es nicht mehr gibt, die man in der Sekunde ausgelöscht hat.
    Die ganze Nacht das Knirschen und Klirren der Glassplitter.
    In den Morgenstunden wachte ich oft auf und war wieder einmal hinter einem Auto hergerannt, das sich rasch von mir entfernte. Selbst damals war mir dieses Traumbild ein wenig zu deutlich, zu explizit. Ich war enttäuscht und den ganzen Tag lang sehr gereizt. Ich hatte ein wenig mehr Verschleierung und Symbolik von meinen Träumen erwartet statt dieser fantasielosen Verhöhnung: Ich, ein kleines, gegen einen weichen, membranartigen Sonnenuntergang anrennendes Etwas, dem seine viel zu kleinen Hände vor den Augen flimmerten, wenn es versuchte, die Stoßstange des Fluchtwagens zu erhaschen, der manchmal noch eine neckische Schnur mit scheppernden Aluminiumdosen hinter sich her schleifte.
    Zu dem Mietshaus gehörte ein steinalter Aufzug, der für gewöhnlich außer Betrieb war. Wenn er doch für wenige Tage im Jahr wieder einmal funktionierte und man sein stöhnendes Steige- und Fallgeräusch in den Wänden hören konnte, wirkte er so gequält, dass nur unwissende Besucher oder Menschen, die beruflich in unserem Haus zu tun hatten, ihn verwendeten. Doch die würdevollgebrechliche Schwerfälligkeit, mit der die Schwebekabine in dem gewählten Stockwerk ansetzte, einrastete und zumStehen kam, erweckte selbst in ihnen so etwas wie Mitleid für diesen alten, müde gewordenen Hauslift, der sich nach nichts mehr sehnte als nach Ruhe und Stillstand.
    Eines Morgens entdeckte ich beim Verlassen der Wohnung, dass sich unsere Klingel über Nacht in ein menschliches Ohr verwandelt hatte. Als ich näher trat, wurde mir klar, dass nur der Klingelknopf herausgefallen war. Er fand sich auf dem Boden, schmutzig und kalt, wie ein ausgeschlagener Zahn. Ich drückte ihn zurück in das Loch. Es klingelte.
    Meine Mutter öffnete die Tür. Ihr Gesicht fragte mich, warum ich immer noch hier, was denn jetzt wieder los und warum ich nicht schon längst –
    – Die Klingel war kaputt, sagte ich.
    – Jetzt geht sie, oder?, sagte sie. Du musst in die Schule, geh jetzt.
    War das Musik, was ich im Hintergrund aus der Wohnung hörte? Ein laut aufgedrehtes Radio, gedämpft durch die Wände mehrerer Räume? Wenn ja, wo? Das einzige Radio befand sich in meinem Zimmer, der Weltempfänger.
    Meine Mutter hatte die Tür schnell wieder geschlossen, und es war zu spät, sie zu fragen. Was machte sie, wenn ich nicht da war? Vielleicht hörte sie den Polizeifunk ab, auf der Suche nach dem verlorenen Mann.
    Verdächtiges Individuum … in einem schäbigen Wagen … Kennzeichen unleserlich … steht hier schon ein paar Tage, ohne sich zu rühren … da ist jemand neben ihm … so ein vermummter … mit einer … Achtung, an alle Einheiten … bewaffnete Entführung in der KSGRTRPST!-Straße … Was? … Ich wiederhole SCHSCHTRTRSCHPPKR-Straße … der Entführer trägt eine Skimaske … und das im Juli …
    Am Schulhaus wehte eine schwarze Fahne, schon

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