Die Frequenzen
Kopfschmerzen, die immer da sind und keine Ursache haben und kein absehbares Ende. Und keine Therapie nützt etwas. Sie kommt eines Tages zu mir, weil sie alle Adressen in der Stadt abklappert, alphabetisch, wie sie sagt. Sie sitzt vor mir und zählt an beiden Händen auf, welche Formen von Therapie schon versucht worden sind. Ich bitte Sie, mir Ihre Kopfschmerzen zu beschreiben. Und sie sagt etwas Interessantes: Ja, die Kopfschmerzen, sagt sie, die reichen ungefähr von dieser Wand des Zimmers bis dahin, zu dem Schrank mit den Büchern. Wenn ich meine Hand auf meine Stirn lege, sagt sie, dann tut auch die Hand nach einer gewissen Zeit weh.
Er macht eine kurze Pause, schließt die Augen
.
Mehr habe ich nicht verstanden. Auf der Tür blieb von meinem lauschenden Ohr ein kleiner Schweißfleck. Wie die Geschichte wohl zu Ende gegangen ist? Die Frau sitzt vor mir, und ich sage ihr: Es ist einzig und allein Ihre Lebensführung, die die Kopfschmerzen verursacht. Oder: Es ist Ihr Ehemann. Die Frau sitzt vor mir, und ich sage: Ihre Kopfschmerzen haben gar keine Ursache und das müssen Sie akzeptieren, es gibt nicht den geringsten Grund dafür, genauso wie es keinen Grund für Ihre Existenz gibt, genauso wie es keinen Grund für das alles hier gibt, für die Tatsache, dass es gerade Sie getroffen hat und nicht mich. Die Kopfschmerzen sind gekommen, einfach so, über Nacht. Sie bedeuten nichts, sie gehen auch nicht mehr weg. Es gibt sie im Grunde gar nicht, sie existieren einzig und allein in Ihrem Kopf – ha!
Er steckt den kleinen aufziehbaren Totenkopf zurück in seine Tasche. Der Kopf beginnt zu knattern, verstummt aber gleich wieder
.
Ah, dieser herrliche überraschte Blick. Und eine angenehme Stimme hat sie, das muss man sagen, eine ganz wunderbare Stimme, nicht zu hoch. Ich liebe Frauen mit tiefer Stimme. Wenn sie sich räuspern, ergibt das ein Geräusch in allen Farben des Regenbogens. Aber gut, was soll’s. Warte unten, hat sie gesagt. Warte unten.
Exit Kerfuchs. Leichtfüßig rennt er das Treppenhaus hinunter. Seine Hand trommelt ausgelassen auf das Geländer. Die glatte Schwingtür schwappt hinter ihm geschmeidig zusammen, spiegelt in ihrer Glasoberfläche die Lichter der Häuser auf der anderen Straßenseite und reißt sie, obwohl sie in Wirklichkeit unbewegliche Riesen sind, wild hin und her
.
Der Presslufthammer und das Uhrwerk
Eine Kaugummiblase wuchs aus ihrem Mund, wurde größer und heller zwischen den schmalen, mit schwarzem Konturstift nachgezogenen Therapeutinnenlippen, ein mystischer Ballon, rosa und glänzend wie der Kopf eines Babys, und als die Blase so groß war, dass sie ihr vor die Augen wuchs, begann Valerie mit der Hand zu wedeln:
Mmh! Mmh!
, was so viel bedeutete wie:
Seht her! Seht alle her!
, und ihre Zeigefinger deuteten auf das Wunder, das im selben Augenblick auch schon ein kleines Loch bekam und zusammensackte, sich noch einmal aufblähte, eine Herzkammer mit angeborenem Fehler – und endgültig zerfiel. Valerie saugte die schlaffe Blase zurück in ihren hübschen Mund.
Ich erkannte erst nach und nach, dass Valerie so etwas wie eine Koryphäe war, oder zumindest das, was ungebildete Menschen als eine echte Koryphäe bezeichnen. Für gebildete Menschen hätte sie als beliebte, aber nicht gerade begnadete Therapeutin gegolten.
Sie war auf jeden Fall ein wichtiger Mensch.
Viele ihrer Klienten verehrten sie. Sie fragten sie auch um Rat, wenn es nicht um ihre Beschwerden ging. Soll ich heiraten? Soll ich eine weite Reise unternehmen? Bin ich vielleicht schon auf einer Reise? Bin ich interessant? Bin ich
ich
?
Valerie verdiente ziemlich gut.
Und wie alle Menschen, die gut verdienen, witterte sie sofort, dass ich wenig Geld hatte, und lud mich ein. Ich bedankte mich und fühlte mich ihr so unterlegen, wie ich mich während der kurzen Zeit meines Studiums manchenStudenten unterlegen gefühlt habe, die dazu imstande gewesen waren, einen zu korrigieren, wenn man einen philosophischen Begriff zu sehr im rein ontologischen Sinn gebrauchte, oder sich darüber entsetzt zeigen konnten, mit welcher Ironie man ein Wort geschlechtsneutral aussprach. Doch Valeries Überlegenheit hatte nichts Hysterisches und Surreales, sondern sie schien außerhalb ihrer selbst zu liegen, in einem allgemeinen Verhaltenskodex, der sie lediglich begleitete und, wenn man genau hinsah, von ihr abperlte wie etwas vollkommen Selbstverständliches.
Schon nach unserem ersten Essen ließ sie sich von mir in den Mantel
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