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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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ganzen Sache hin –
    Da explodierte plötzlich das Gebäude ringsum, die Decke wurde aus ihrer Verankerung gerissen und in den Weltraum fortgeweht, der Himmel gefährlich rot, Wind trat ein, überall Wind, scharf und übel riechend. Ich packte Valerie am Arm und rannte mit ihr aus den Trümmern – in die Trümmer. Die ganze Stadt zerstört! Ein Meteor? Ein Atomangriff? Eine göttliche Intervention in das schiefgegangene Menschheitsexperiment, das nichts bewiesen hatte? Ich zerrte Valerie hinter mir her durch herabfallende Ziegelsteine und brennenden Schutt. Sie jammerte, sie hatte Staub und Asche im Gesicht. Ich zog sie in die ausgebrannte Höhle eines Schaufensters. Plastikköpfe, brennende Fetzen und Tausende, Millionen Kleiderhaken lagen auf dem Boden verstreut. Wir rollten uns in einen Winkel, der mir einigermaßen sicher schien.
Ich hab Angst
, flüsterte Valerie. Ich legte einen Arm um sie.
Hier müssen wir wohl einige Tage aushalten
, sagte ich, um einen beruhigenden, väterlichen Tonfall bemüht. Ich bemerkte, dass Valeries Streifenpullover durch die Explosion zerrissen worden war –
    – Wie bist du eigentlich zu deiner Arbeit gekommen, ich meine …
    Ihre Gabel blieb kurz noch, wo sie war, dann kehrte sie zu ihrem Essen zurück.
    Ich räusperte mich, sammelte Speichel.
    – Na ja, sagte ich … also ich hab mir vor allem vorgestellt …
    Was hätte ich sagen sollen? Nun ja, warum ausgerechnet das Altersheim? Weil es das ist, was uns alle erwartet, vorausgesetzt, wir leben lange genug. Eine Art Grundwehrdienst in der Hölle. In der Hölle der Narrenfreiheit, wo man alles sagen darf, aber nichts ernst genommen wird, in der Hölle der Hilflosigkeit und der obszönen Verwandlungen des eigenen Körpers. Manchmal werden auch die Pfleger von dieser Hölle erfasst und schalten in einen grausamen Überlebens-Modus, werden zu Raubtieren, die abstrakte Hindernisse aus Fleisch und Blut überwinden müssen. Ich hätte von den zwei brutalen Pflegern erzählen können, die mit mir, dem Neuen, zu einem apathischen, gelähmten Mann gegangen sind:
Schau, den kannst du ohrfeigen … Probier mal, das befreit
, total …
Du kannst ihn auch kitzeln. Kein Schwein weiß, ob er wirklich kitzlig ist. Habt ihr eigentlich gewusst, dass man daran sterben kann? Ja, irgendwann bleibt dir einfach die Luft weg und du krepierst

    Junge Pfleger drehen im Nachtdienst regelmäßig durch und bestrafen die Alten, die sich von oben bis unten vollgeschissen haben. Sie ziehen zwei Lagen Krankenhaushandschuhe an und greifen in die Scheiße, um sie auf dem alten, entsetzten, nur manchmal um Hilfe schreienden Gesicht zu verschmieren. Max hat das einmal gemacht und ist nicht einmal rausgeflogen. Jeder weiß, dass er verrückt ist. Oft kommt er am Morgen mit einem Haufen kleiner Heftpflaster am Unterarm zur Arbeit. Er sagt dann, er habe sich wieder mit Öl verbrannt, aber jeder weiß, dass ersich selbst in den Unterarm schneidet, wenn er mit seinen Dämonen allein ist.
    Ich hatte den Faden verloren, starrte dumm auf meine Gabelspitze und die drei Babykarotten, die darauf aufgespießt waren.
    – Was hast du dir vorgestellt?
    – Hm? Entschuldigung, ich hab kurz nicht aufgepasst.
    – Was hast du dir vorgestellt?, wiederholte sie sanfter.
    Was?
    – Ich, ich weiß nicht, ich hab den Faden verloren.
    Gott sei Dank lachte sie darüber. Sie machte kein besorgtes Gesicht, sie fragte mich nicht danach. Sie wurde auch nicht wütend über den Mangel an Aufmerksamkeit, den ich ihr bei unserem ersten gemeinsamen Mittagessen entgegenbrachte. Sie sprang nicht augenblicklich von ihrem Sessel auf, riss ihre Handtasche an sich und verließ den Raum mit schnellen Stöckelschuhschritten, deren Takt ich nicht würde vergessen können.
    – Ah, ich weiß schon wieder, sagte ich, sicher, meine Arbeit. Ja. Ich hab mir einfach vorgestellt … wie sich das anfühlen wird, alt zu sein, irgendwann einmal. Ich meine, noch bin ich jung und kann mich bewegen und alles …
    – Ja, das ist sicher wichtig.
    – Findest du?
    Sie lächelte. Ich lächelte zurück. Es war so einfach wie Pingpong. Als nächstes würden wir uns gegenseitig beschnüffeln und auf telepathische Weise zu der gemeinsamen Überzeugung kommen, dass es das Beste wäre, wenn wir –
    – Man sollte sich zumindest einmal mit diesem Problem auseinandergesetzt haben, sagte sie.
    Sie nahm einen Bissen von ihrer Gabel und kaute. Wir kauten, sahen woanders hin.
    – Mein Vater war für kurze Zeit in einem

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