Die Frequenzen
Scheidung hast du deinen alten Namen wieder angenommen?
– Ich hab ihn nie aufgegeben. Ist doch ein schöner Name, oder?
– Ja, so geschwungen. Wie ein Schmetterlingsflügel.
– Nach der Scheidung ging’s mir allerdings schon ziemlich dreckig. Ich hab Geister fotografiert, irgendwelche Flecken an der Wand, ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht hab. Geister unterscheiden sich ja von normalen Menschen nur dadurch, dass sie nie in peinliche Situationen kommen können.
Wir waren auf die Couch übersiedelt und trieben die Gesprächsthemen vor uns her.
– Warte, ich weiß auch einen, sagte ich. Vor kurzem hab ich was ganz Verrücktes geträumt. Ich hab geträumt, dass ich mit meiner Mutter ein Spiel spiele. Und bei dem Spiel geht es darum, wer besser ein graues Pferd nachmachen kann, so ein altes Pferd mit hängendem Kopf und einem Maul, das ständig an irgendetwas kaut.
– Ich hab Pferde immer gern gehabt, sagte Valerie und strich sich eine Strähne aus der Stirn.
– Ja, aber was das Seltsamste war … ich hatte im Traum das Gefühl, dass meine Mutter dieses Spiel ein wenig zu freudig mitmacht, dass ihr diese Verrenkungen irgendwie nicht … irgendwie nicht zustehen …
– Hm, machte Valerie. Als Kind bin ich einmal geritten. Aber dann bin ich irgendwann vom Pferd gefallen und habe mich am Rücken verletzt. Nichts Schlimmes. Aber ich bin nie wieder geritten.
– Aber Pferde machen dir nichts aus.
– Wie? Ob ich Angst habe, meinst du?
– Ja.
– Nein, ich finde sie schön. Mit ihren langen Gesichtern. Und stimmt, die kauen wirklich ständig an irgendwas, anden Zügeln, unter ihrer Zunge. Stell dir das einmal vor. Den ganzen Tag mit so etwas unter der Zunge, von dem das andere Ende in der Hand eines halbverrückten Jockey liegt.
– Kein Wunder, dass sie immer so traurig aussehen.
– Stimmt. Aber sie machen mich nie wirklich traurig. Ich meine, ich hab Mitleid und alles, das schon, aber sie sind trotzdem immer wie Kunstwerke, wie Statuen. Vor Statuen muss ich ja auch nicht weinen. Nur einmal hab ich eine Skulptur gesehen, die hätte mich fast dazu gebracht. Aber nur fast.
– Welche?
– Die
Nase
von Giacometti. Ein Würfel mit einem schwebenden Menschenkopf drin. Und nur die monströse Nase ragt aus dem Würfel heraus, weil sie viel zu lang ist.
– Witzig, sagte ich.
– Ja, sagte Valerie ernst. Aber die Nase selbst ist überhaupt nicht witzig. Du fragst dich vielmehr: Womit hat der das verdient? Weißt du? Ich meine, dass seine Nase so lang ist, während alle anderen … So ein Gefühl von Ungerechtigkeit.
– Kenn ich, sagte ich.
Mit Valerie zu reden war wie das
Katzenwiege
-Spiel, das die Mädchen in meiner Schule spielten wie in jeder anderen Schule der westlichen Welt. Man wickelt einen Bindfaden kunstvoll um die Finger, sodass ein bestimmtes Muster entsteht. Dann kommt jemand, lächelt viel sagend und übernimmt mit seinen Fingern das Muster, aus dem durch eine bestimmte Drehung ein neues wird. Die Mädchen konnten dieses Spiel stundenlang spielen. Sie sprachen dabei kein Wort, aber sie reagierten auf die entstehenden Muster wie auf geistreiche Bemerkungen der anderen, einmal war das Muster witzig, dann scheinbarschlau, dann ironisch. Ich wusste, dass ich nie hinter die Geheimsprache des weißen Bindfadens kommen würde. Die Burschen unserer Klasse, das wusste ich, würden sich damit höchstens gegenseitig fesseln oder strangulieren.
Jedes Wort von Valerie war ein anderes Muster, das Gespräch blieb dasselbe, aber sonst veränderte sich immer alles. Sie sprach über ihre Vergangenheit und amüsierte sich über den Umstand, dass sie fast doppelt so alt war wie ich.
– Ist doch schön, sagte sie. Das ist dann für dich fast so wie zwei Frauen auf einmal!
– Wow, sagte ich.
– Aber es stimmt, sagte sie ein wenig nachdenklicher, vor zwanzig Jahren war ich tatsächlich jemand anders.
Sie schüttelte angewidert den Kopf und fasste sich an die Schultern, als wäre ihr kalt geworden.
Auf einem Schrank voller Bücher entdeckte ich ein paar eigenartige Puppenfiguren, die in einer Ecke so etwas wie eine kleine Krippe bildeten.
– Was sind denn das für –
– Ah, das … Jizo.
– Was?
– Jizo.
– Und was –
– Buddhistische Figuren.
– Nein, ich meine, was bedeuten sie?
– Ach, die sollen Glück bringen.
Der Schrank war voll mit einschlägiger Literatur. Gleich zwei Ausgaben des
Tibetanischen Totenbuchs
.
– Du hast ja ziemlich viel davon, sagte ich (ich
Weitere Kostenlose Bücher