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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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war weich und irgendwie wabernd, wenn man sie berührte, und sie eierte lustig hin und her, wie eine gespannte Wäscheleine. Sie versetzte das ganze Zimmer in Schwingungen. Die verborgene Herzsaite der Dinge.
    – Das ist Wahnsinn, sagte ich.
    – Hm?
    Valeries Gesicht ging über dem Horizont des Bettes auf, erkannte mich und lachte. Sie hörte gar nicht mehr auf. Ich hätte wohl auch gelacht, wenn nicht ihr Kopf genau in den Riss geraten wäre und nun aus zwei Hälften bestand, die etwas versetzt zusammengesteckt waren. Ich versuchte sie mit meinem Fuß aus der Verzerrung zu schieben, aber sie nahm meine Zehen und begann sie zu zählen.
    – Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Sechs Zehen!
    Sie kicherte.
    – Unmöglich, raunte ich.
    Sie musste sich verzählt haben!
    – Sechs Zehen, wiederholte sie. An jedem Fuß.
    – Hast du, ich meine, hast du die Ferse, sagte ich verwirrt, vielleicht mitgezählt, ich meine …
    – Nein, eindeutig sechs Zehen.
    – Gibt’s nicht, sagte ich und drückte meine Augen zur Sicherheit zurück in ihre Höhlen. Du musst die Ferse mitgezählt haben.
    – Hab ich nicht.
    – Dann ist das Hexerei, sagte ich und musste lachen.
    Ich spuckte mich aus Versehen an. Du liebe Zeit, ich war nackt. Wie lange war ich schon nackt?
    – Wie spät ist es?, fragte ich.
    Valerie nahm meinen Fuß, tastete darauf herum.
    – Sechs, sagte sie.
    Wir kugelten uns vor Lachen.
    – Fünf! Es ist höchstens fünf!, protestierte ich, nach Luft japsend, während mein Zwerchfell zu schmerzen begann.
    Ich versuchte einen langen, ruhigen Atemzug, aber es war unmöglich, der Lachkrampf schnürte mich in ein enges Korsett. Alles war entsetzlich komisch, Valeries verklebte Haarsträhnen auf ihrer Stirn, ihre Schultern, mein Fuß, das Bett, der Riss – er war das Allerkomischste. Eine unwissende Fliege flog einfach mitten hindurch und wurde in der Mitte gespalten. Die beiden Fliegenhälften flogen getrennte Wege.
    – He, bevor ich’s vergesse … du kommst doch zu meinem Vortrag?, sagte Valerie.
    – Welcher Vortrag?, fragte ich, immer noch außer Atem.
    Ein komisches Wort.
Vortrag. Fort tragen. Vortag
.
    – Morgen.
    – Sicher, sicher. Ich folge dir überallhin. Ich bin dein Kometenschweif.
    Ihr Gesicht erschien wieder über dem Bettrand.
    – Das hast du schön gesagt, sag das noch mal!

Töne
    – Entschuldigen Sie, ich glaube, ich habe den Faden verloren. Wissen Sie noch, was ich gerade gesagt habe?
    – Ja, sagte Walter. Sie wollten sich gerade bei mir beschweren.
    – Ah, ja, sagte Valerie. Natürlich. Was zum Teufel sollte das gestern Abend?
    – Wieso, was meinen Sie?
    – Walter, ich habe Sie gebeten, mir zu helfen, weil Sie Erfahrung als Schauspieler haben. Das haben Psychologen in den allermeisten Fällen natürlich nicht. Deshalb habe ich auch absichtlich keinen Kollegen gefragt, die verpatzen immer alles … Pfeife rauchende Idioten … Aber, ich meine, Sie brauchen hier wirklich keine Show abzuziehen.
    – Hab ich doch gar nicht! Haben die anderen nicht gut auf mich reagiert?
    Valerie rieb sich die Augen, kratzte sich am Hals.
    – Ja, sicher, sagte sie. Sicher haben sie das. Aber es hätte auch anders kommen können.
    – Sie sind doch für unkonventionelle Methoden bekannt, sagte Walter.
    Das war völlig frei erfunden, er hatte noch nie in seinem Leben jemanden über Valeries Methoden sprechen gehört. Sie wurde rot, eine nackte Felswand, auf der die Morgenröte emporklettert, und ging mit ihm noch einmal Schritt für Schritt alle Punkte durch. Trotzdem hatte Walter den Eindruck, dass sie heute nicht ganz bei der Sache war. Sie trug einen Rollkragenpullover, obwohl es dafür viel zu warm war, und kratzte sich ständig den Hals. Als Valerie ihm Zeit ließ, ein paar wichtige Sätze durchzulesen und vielleicht sogar schon zu memorieren, bemerkte er, dasssie mit einem geistesabwesenden Lächeln zum Fenster hinausstarrte und ein Bein auf dem anderen schaukeln ließ. Walter kannte diesen Blick und verstand nun auch den Pullover, den unaufgeräumten Schreibtisch, auf dem leere Schokoriegel-Verpackungen lagen, verstand die Augenringe und den erdig-verschwitzten Sommergeruch, den seine neue Vorgesetzte an diesem Morgen verströmte.
    Verliebt. Mit ihren Gedanken woanders. Und wahrscheinlich Bissspuren im Genick.
    Als Walter den Text durchgelesen hatte, erklärte sie ihm noch ein paar sehr wichtige Aspekte des Charakters, den er verkörpern sollte. Mit weit ausholenden Gesten sprach Valerie von einem

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