Die Freude am Leben
Gründe für düstere Stimmungen zu finden. So begann er nach und nach wirklich unter der unsauberen Schar zu leiden, in der bereits alle Sünden der Menschen gärten. Dieses Elendsgezücht vergällte ihm vollends das Leben, er verließ sie wie zerschlagen, verzweifelt, mit Haß und Verachtung gegenüber der menschlichen Herde. Die zwei Stunden Mildtätigkeit machten ihn schließlich böse, er verwarf das Almosengeben, verspottete die Barmherzigkeit. Und er schrie, es sei das klügste, dieses Nest schädlicher Insekten mit dem Absatz zu zertreten, anstatt ihnen beim Heranwachsen zu helfen. Pauline hörte ihm zu, verwundert über seine Heftigkeit, sehr bekümmert darüber, daß er nicht in der gleichen Weise wie sie empfand.
An jenem Sonnabend machte der junge Mann, als sie allein waren, seinem ganzen Leiden in einem Satz Luft.
»Mir ist, als käme ich aus der Gosse.« Dann fügte er hinzu: »Wie kannst du diese Ungeheuer lieben?«
»Ich liebe sie eben um ihretwillen, nicht um meinetwillen«, erwiderte das junge Mädchen. »Du würdest ja auch einen räudigen Hund von der Landstraße auflesen.«
Er machte eine Gebärde des Widerspruchs.
»Ein Hund ist kein Mensch.«
»Helfen, um zu helfen, ist das denn nichts?« begann sie wieder. »Es ist ärgerlich, daß sie sich nicht bessern, denn ihr Elend wäre dann vielleicht geringer. Aber wenn sie gegessen haben und ihnen ist warm, nun, das genügt mir, dann bin ich zufrieden: das ist immer schon etwas Schmerz weniger ... Warum sollen sie uns entgelten, was wir für sie tun?« Und sie schloß traurig: »Mein armer Freund, ich sehe, das macht dir kaum Vergnügen; es ist besser, du hilfst mir nicht mehr ... Ich habe keine Lust, dir das Herz zu betrüben und dich schlechter zu machen, als du bist.«
Lazare entglitt ihr, sie war darüber tief betrübt, überzeugt von ihrer Ohnmacht, ihn aus seiner Krise des Grauens und der Langeweile zu reißen. Wenn sie ihn so nervös sah, konnte sie nicht glauben, daß allein das uneingestandene Übel so verheerend wirkte, sie vermutete andere Gründe für seine Traurigkeit, der Gedanke an Louise erwachte in ihr. Bestimmt dachte er noch immer an das Mädchen, er schleppte das Leid, sie nicht mehr zu sehen, mit sich herum. Da erstarrte sie zu Eis, und sie versuchte, den Stolz ihrer Selbstaufopferung wiederzufinden, indem sie von neuem schwor, so viel Freude um sich zu verbreiten, daß es zum Glück der Ihren genüge.
Eines Abends sprach Lazare ein grausames Wort aus.
»Wie allein man hier ist!« sagte er gähnend.
Sie sah ihn an. War das eine Anspielung? Aber sie hatte nicht den Mut, ihn geradeheraus zu fragen. Ihre Güte lag mit sich im Kampf, ihr Leben wurde wieder zur Qual.
Eine letzte Erschütterung erwartete Lazare, seinem alten Mathieu ging es nicht gut. Das arme Tier, das im März vierzehn Jahre alt geworden war, bekam es mehr und mehr in den Hinterpfoten. Wenn ihn Anfälle steif machten, konnte er kaum gehen, blieb er auf dem Hof in der Sonne ausgestreckt liegen und spähte mit seinen schwermütigen Augen nach den Leuten, die aus dem Hause kamen. Es waren vor allem diese alten Hundeaugen, die Lazare rührten, trüb gewordene, von einer bläulichen Wolke verdunkelte Augen, verschwommen wie die Augen eines Blinden. Indessen sah er noch, schleppte er sich zu seinem Herrn, um ihm seinen dicken Kopf aufs Knie zu legen, sah ihn dann starr an mit dem traurigen Ausdruck eines Wesens, das alles versteht. Und er war nicht mehr schön: Sein weißes gekräuseltes Fell war gelb geworden; seine einst so schwarze Nase wurde weißlich. Schmutz und eine Art Scham machten ihn bejammernswert, denn auf Grund seines hohen Alters wagte man nicht, ihn zu waschen. Alle seine Spiele hatten aufgehört, er wälzte sich nicht mehr auf dem Rücken, drehte sich nicht mehr nach seinem Schwanz herum, wurde nicht einmal mehr von Zärtlichkeitsanwandlungen für Minouches Junge entflammt, wenn das Hausmädchen sie zum Meer trug. Er verbrachte jetzt die Tage in der Schläfrigkeit eines alten Mannes, und es bereitete ihm so viel Qual, wieder auf die Beine zu kommen, er zog sich so mühselig auf seinen kraftlosen Pfoten hoch, daß ihm oft jemand aus dem Hause, von Mitleid ergriffen, half, ihn einen Augenblick stützte, damit er wieder laufen konnte.
Blutverluste erschöpften ihn mit jedem Tage mehr. Man hatte einen Tierarzt kommen lassen, der bei seinem Anblick in Lachen ausgebrochen war. Wie! Man bemühte ihn um dieses Hundes willen? Das beste wäre, ihn
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