Die Freude am Leben
ständig vor sich sah, wie sie da vernünftig und unbeweglich auf dem Rand eines Stuhles saß, mit großen mitleidigen Augen, die sich nicht von ihm abwandten. Er versuchte sich dadurch abzulenken, daß er ihr seine Leiden beschrieb.
»Siehst du, in diesem Augenblick ist es, als ob ein schartiges Messer mir die Fußknochen aus den Gelenken schneidet; und gleichzeitig würde ich schwören, daß man mir lauwarmes Wasser über die Haut gießt.«
Dann veränderte sich der Schmerz: Man band ihm den Knöchel mit Draht, man spannte seine Muskeln bis zum Zerreißen wie Violinsaiten. Pauline hörte mit freundlicher Miene zu, schien alles zu verstehen, ließ sich durch sein klagendes Gebrüll nicht erschüttern, war einzig auf die Heilung bedacht. Sie war sogar fröhlich, es gelang ihr, ihn zwischen zwei Wehklagen zum Lachen zu bringen.
Als Doktor Cazenove endlich kam, war er entzückt und drückte der kleinen Krankenwärterin einen kräftigen Kuß aufs Haar. Er war ein hagerer und kraftvoller Mann von vierundfünfzig Jahren, der sich nach dreißigjähriger Dienstzeit bei der Marine nach Arromanches zurückgezogen, wo ein Onkel ihm ein Haus hinterlassen hatte. Er war der Freund der Chanteaus, seitdem er Frau Chanteau von einer bedenklichen Verstauchung geheilt hatte.
»Nun ja, da sind wir wieder mal soweit!« sagte er. »Ich bin herbeigeeilt, um Ihnen die Hand zu drücken. Doch Sie müssen wissen, daß ich dabei nicht mehr tun kann als dieses Kind. Mein Lieber, wenn man die Gicht geerbt hat und über die Fünfzig hinaus ist, soll man Trauer anlegen. Dazu kommt noch, daß Sie sich mit einem Haufen Arzneien zugrunde gerichtet haben ... Sie kennen das einzige Heilmittel: Geduld und Flanell!«
Er legte große Skepsis an den Tag. Dreißig Jahre lang hatte er so viele Unglückliche mit dem Tode ringen sehen, unter allen Himmelsstrichen und auf alle Arten des Verfalls, daß er im Grunde sehr bescheiden geworden war: Er zog es meistens vor, das Leben walten zu lassen. Dennoch untersuchte er den geschwollenen Zeh, dessen glänzende Haut dunkelrot war, ging zu dem von der Entzündung befallenen Knie über, stellte am Rand des rechten Ohres das Vorhandensein eines harten, weißen kleinen Knotens fest.
»Aber Doktor«, ächzte der Kranke, »Sie können mich doch nicht so leiden lassen!«
Cazenove war ernst geworden. Dieser Gichtknoten nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, und er fand angesichts dieses neuen Symptoms seinen Glauben wieder.
»Mein Gott!« murmelte er. »Ich will es gerne mit Alkaloiden und Salzen versuchen ... Offensichtlich wird sie chronisch.«
Dann ereiferte er sich.
»Überdies ist es Ihre Schuld, Sie befolgen nicht die Diät, die ich Ihnen vorgeschrieben habe ... Niemals Bewegung, immer in Ihren Sessel hingesielt. Und ich wette, Wein und Fleisch, nicht wahr? Geben Sie zu, daß Sie etwas Erhitzendes gegessen haben.«
»Oh! Ein kleines bißchen Gänseleberpastete«, bekannte Chanteau schwach.
Der Arzt hob beide Arme, um Himmel und Erde als Zeugen anzurufen. Indessen zog er einige Fläschchen aus seinem großen Überrock und begann einen Arzneitrank zuzubereiten. Bei der örtlichen Behandlung begnügte er sich damit, den Fuß und das Knie in Watte zu hüllen, die er dann mit Wachsleinwand fest umwickelte. Und als er ging, wandte er sich an Pauline und wiederholte ihr seine Anordnungen: alle zwei Stunden einen Löffel von der Medizin, so viel Haferschleim, wie der Kranke zu trinken wünschte, und vor allem absolute Diät.
»Glauben Sie vielleicht, man kann ihn am Essen hindern?« sagte Frau Chanteau, als sie den Doktor hinausbegleitete.
»Nein, nein, Tante, er wird vernünftig sein, du wirst sehen«, erlaubte sich Pauline einzuwenden. »Ich werde ihn schon dazu bringen, daß er alles befolgt.«
Cazenove schaute sie an, belustigt über ihren besonnenen Ausdruck. Er küßte sie von neuem, diesmal auf beide Wangen.
»Diese Kleine hier ist wahrlich für die anderen geboren«, erklärte er mit dem klaren Blick, mit dem er seine Diagnosen stellte.
Chanteau schrie acht Tage lang. Der rechte Fuß hatte in dem Augenblick angefangen, da der Anfall bereits beendet schien, und die Schmerzen waren mit doppelter Heftigkeit wieder aufgetreten. Das ganze Haus erzitterte; Véronique schloß sich tief hinten in ihrer Küche ein, um nichts zu hören; Frau Chanteau und Lazare flohen in ihrer nervösen Angst zuweilen nach draußen. Allein Pauline verließ das Zimmer nicht, wo sie gegen die Dickköpfigkeit des Kranken
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