Die Freude am Leben
ankämpfen mußte, der mit aller Gewalt ein Kotelett essen wollte und schrie, er habe Hunger, Doktor Cazenove sei ein Esel, weil er ihn nicht einmal zu heilen verstünde. Vor allem nachts wurde das Übel doppelt schlimm. Sie kam kaum zwei oder drei Stunden zum Schlafen. Im übrigen war sie munter, niemals wuchs ein kleines Mädchen gesünder heran. Frau Chanteau hatte schließlich erleichtert diese Hilfe eines Kindes angenommen, das das ganze Haus beruhigte. Endlich trat die Genesung ein, Pauline erhielt ihre Freiheit zurück, und eine enge Kameradschaft knüpfte sich zwischen ihr und Lazare.
Im großen Zimmer des jungen Mannes fing es an. Er hatte eine Wand niederreißen lassen und bewohnte auf diese Weise eine ganze Hälfte des zweiten Stockwerks. Ein kleines eisernes Bett stand verloren in einer Ecke hinter einem zerrissenen alten Wandschirm. An einer Wand waren auf Fichtenholzbrettern an die tausend Bände aufgereiht, klassische Bücher, zerflederte Bände, die er hinten auf einem Dachboden in Caen entdeckt und nach Bonneville gebracht hatte. Neben dem Fenster quoll aus einem riesigen alten normannischen Schrank ein Wust von außergewöhnlichen Gegenständen, Gesteinsproben, nicht mehr gebräuchlichen Werkzeugen, halb zerbrochenem Kinderspielzeug. Außerdem stand da noch das Klavier, über dem ein Paar Stoßdegen und eine Fechtmaske hingen, und ein riesengroßer alter Tisch in der Mitte, ein sehr hoher ehemaliger Zeichentisch, der voller Papiere, Bilder, Tabakdosen, Pfeifen lag und auf dem man nur mit Mühe einen Platz zum Schreiben finden konnte.
Pauline, die sich in dieser Unordnung tummeln konnte, war entzückt. Sie brauchte einen Monat, um das Zimmer zu erforschen, und täglich gab es neue Entdeckungen: einen »Robinson« mit Kupferstichen fand sie im Bücherschrank, einen Hampelmann fischte sie unter dem Schrank hervor. Sowie sie aufgestanden war, hüpfte sie aus ihrem Zimmer zu ihrem Cousin hinüber, ließ sich dort nieder, ging am Nachmittag wieder hinauf, lebte dort. Lazare hatte sie vom ersten Tage an wie einen Jungen aufgenommen, wie einen neun Jahre jüngeren Bruder, der aber so fröhlich, so drollig war mit seinen großen klugen Augen, daß er sich keinen Zwang mehr antat, seine Pfeife rauchte, auf einen Stuhl hingelümmelt, die Beine hochgelegt, las und lange Briefe schrieb, in die er Blumen mit einlegte. Nur wurde der Spielgefährte zuweilen schrecklich ausgelassen. Unvermittelt kletterte Pauline auf den Tisch, oder sie sprang wohl auch mit einem Satz durch den zerrissenen Wandschirm. Als er sich eines Morgens umdrehte, weil er sie nicht mehr hörte, sah er, wie sie mit der Fechtmaske vor dem Gesicht und einem Florett in der Hand ins Leere grüßte. Und wenn er ihr anfangs zurief, sie solle sich ruhig verhallen, wenn er ihr drohte, sie hinauszuwerfen, so endete das gewöhnlich mit ausgelassenen Spielen zu zweit, mit Bocksprüngen mitten im Zimmer, in dem alles drunter und drüber lag. Sie warf sich ihm an den Hals, er wirbelte sie wie einen Kreisel herum, daß ihre Röcke flogen, war selbst wieder zum kleinen Jungen geworden, und beide lachten dabei ein lustiges Kinderlachen.
Sodann beschäftigte sie das Klavier. Das Instrument stammte aus dem Jahre 1810, ein altes Èrard4Klavier, auf welchem seinerzeit Fräulein Eugénie de la Vignière fünfzehn Jahre lang Stunden gegeben hatte. In dem glanzlos gewordenen Mahagonigehäuse seufzten die Saiten ferne Klänge von verschleierter Lieblichkeit. Lazare, der von seiner Mutter kein neues Klavier bekam, hämmerte mit aller Kraft auf diesem herum, ohne ihm die romantischen Wohllaute zu entlocken, die ihm im Schädel summten; und er hatte die Gewohnheit angenommen, sie mit dem Munde zu verstärken, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. In seiner Leidenschaft nutzte er Paulines Gefälligkeit bald aus; er hatte jetzt einen Zuhörer, ganze Nachmittage lang spielte er sein Repertoire herunter: Es bestand aus dem Schwierigsten, was es in der Musik gab, vor allem aus den damals verpönten Werken von Berlioz5 und Wagner. Und er brüllte und spielte schließlich ebensoviel mit der Kehle wie mit den Fingern. An jenen Tagen langweilte sich das Kind sehr, aber es hörte dennoch ruhig zu, aus Furcht, den Cousin zu kränken.
Die Abenddämmerung überraschte sie bisweilen. Von den Rhythmen berauscht, erzählte Lazare dann von seinen großen Träumen. Auch er würde ein genialer Musiker werden, seiner Mutter und aller Welt zum Trotz. Auf dem Gymnasium von Caen hatte
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