Die Freude am Leben
habe.
»Keine unmittelbare Gefahr«, wiederholte Lazare, neuerlich von Furcht ergriffen. »Befürchten Sie Komplikationen?«
»Nein«, erwiderte der Arzt nach einem Zögern. »Aber bei diesen verteufelten Halsleiden weiß man nie.«
Und er gestand, daß vorerst nichts zu machen sei. Er wünschte den nächsten Morgen abzuwarten, bevor er die Kranke zur Ader ließe. Da der junge Mann ihn anflehte, ihr doch wenigstens Erleichterung zu verschaffen, wollte er es außerdem gern mit Senfpflastern versuchen. Véronique brachte eine Schüssel mit heißem Wasser herauf, der Arzt legte selber die eingeweichten Blätter auf, indem er sie die Beine entlang von den Knien bis zu den Knöcheln gleiten ließ. Das war nur noch ein Leiden mehr, das Fieber hielt an, die Kopfschmerzen waren unerträglich. Erweichende Gurgelmittel waren ebenfalls angezeigt, und Frau Chanteau bereitete einen Aufguß von Brombeerblättern, von dem man jedoch nach dem ersten Versuch Abstand nehmen mußte, so unmöglich machte der Schmerz jede Bewegung des Schlundes. Es war fast sechs Uhr, der Tag brach an, als der Arzt sich zurückzog.
»Ich komme gegen Mittag wieder«, sagte er im Flur zu Lazare. »Beruhigen Sie sich ... Es sind nur Schmerzen.«
»Ist das etwa nichts, Schmerzen!« rief der junge Mann, der entrüstet war über das Kranksein. »Man sollte keine Schmerzen leiden müssen.«
Cazenove sah ihn an, hob dann angesichts einer so außergewöhnlichen Anmaßung die Arme zum Himmel.
Als Lazare in das Zimmer zurückkam, schickte er seine Mutter und Véronique einen Augenblick zu Bett: Er hätte doch nicht schlafen können. In Paulines Zimmer, in dem alles durcheinanderlag, sah er den Tag anbrechen, diese unheimliche Morgendämmerung nach im Todeskampf verbrachten Nächten. Die Stirn an eine Fensterscheibe gelehnt, betrachtete er verzweiflungsvoll den fahlen Himmel, als ein Geräusch ihn veranlaßte, den Kopf zu wenden. Er glaubte, Pauline wolle aufstehen. Es war der von allen vergessene Mathieu, der endlich unter dem Bett hervorgekrochen war, um sich dem jungen Mädchen zu nähern, dessen eine Hand aus den Decken heraushing. Der Hund leckte diese Hand mit so viel Zärtlichkeit, daß Lazare ihn ganz gerührt um den Hals faßte und sagte:
»Siehst du, mein armer Dicker, Frauchen ist krank ... Aber es ist nichts, laß nur! Wir werden wieder alle drei herumgaloppieren.«
Pauline hatte die Augen aufgeschlagen, und obgleich sich ihr Gesicht schmerzlich verzog, lächelte sie.
Jetzt begann das Dasein in Angst, der Alptraum, den man im Zimmer eines Kranken erlebt. Lazare, der einem Gefühl wilder Zuneigung nachgab, verjagte alle daraus; kaum ließ er seine Mutter und Louise des Morgens hereinkommen, um sich zu erkundigen; und er ließ nur Véronique zu, bei der er eine echte Liebe herausfühlte. In den ersten Tagen hatte Frau Chanteau ihm begreiflich machen wollen, wie unschicklich es sei, wenn ein junger Mann ein junges Mädchen pflegte; aber er hatte heftig Einspruch erhoben. War er denn nicht ihr Mann? Außerdem behandelten die Ärzte ebensogut Frauen. Zwischen ihnen gab es in der Tat keine schamhafte Verlegenheit. Das Leiden, der vielleicht nahe bevorstehende Tod ließen die Sinne verstummen. Er erwies Pauline alle kleinen Dienste, richtete sie auf, legte sie wieder hin, als mitleidsvoller Bruder, der in diesem begehrenswerten Körper nur das Fieber sah, das ihn durchschauerte. Es war gleichsam die Fortführung ihrer gesunden Kindheit, sie kehrten zur keuschen Nacktheit ihrer ersten Bäder zurück, da er sie wie ein kleines Mädchen behandelte. Die Welt verschwand, nichts war mehr vorhanden, nichts als die einzunehmende Arznei, als die vergebens von Stunde zu Stunde erwartete angekündigte Besserung, als die niederen Einzelheiten des tierischen Lebens, die plötzlich eine ungeheure Bedeutung annahmen und über Freude oder Traurigkeit der Tage entschieden. Und den Tagen folgten die Nächte, Lazares Dasein pendelte gleichsam über der Leere in der zu jeder Minute gegenwärtigen Angst vor einem Sturz in die schwarze Dunkelheit.
Jeden Morgen machte Doktor Cazenove Pauline seinen Krankenbesuch; er kam sogar manchmal am Abend nach dem Essen wieder. Gleich beim zweiten Besuch hatte er sich zu einem reichlichen Aderlaß entschlossen. Aber das für einen Augenblick unterdrückte Fieber war wiedergekommen. Zwei Tage vergingen, er war sichtlich beunruhigt, weil er die Hartnäckigkeit des Übels nicht begriff. Da das junge Mädchen immer größere Mühe hatte,
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