Die Freude am Leben
den Mund zu öffnen, konnte er nicht den Rachen untersuchen, der ihm geschwollen und fahl gerötet schien. Als Pauline über eine zunehmende Spannung klagte, die ihren Hals zu sprengen schien, sagte der Doktor schließlich eines Morgens zu Lazare:
»Ich vermute eine Phlegmone17.«
Der junge Mann nahm ihn mit in sein Zimmer. Er hatte am Abend zuvor beim Blättern in seinem alten Handbuch der Pathologie die Seiten über die Retropharyngealabszesse gelesen, die in die Speiseröhre vordringen und den Tod durch Ersticken herbeiführen können, indem sie die Luftröhre zusammendrücken. Sehr bleich, fragte er:
»Also ist sie verloren?«
»Ich hoffe, nein«, erwiderte der Arzt. »Man muß sehen.«
Doch er selber verbarg nicht länger seine Besorgnis. Er bekannte seine nahezu völlige Ohnmacht in dem vorliegenden Fall. Wie sollte man einen Abszeß hinten in diesem krampfhaft zusammengezogenen Mund aufspüren? Und im übrigen würde es bedenkliche Folgen nach sich ziehen, wenn man diesen Abszeß zu früh öffnete. Das beste wäre, den weiteren Verlauf der Natur zu überlassen, was sehr langwierig und sehr schmerzhaft sein würde.
»Ich bin nicht der liebe Gott!« rief er, als Lazare ihm die Nutzlosigkeit seiner Wissenschaft vorwarf.
Die Zuneigung, die Doktor Cazenove für Pauline empfand, äußerte sich bei ihm in doppelt großsprecherischer Barschheit. Dieser stattliche Greis, der dürr war wie ein wilder Rosenstamm, war ins Herz getroffen. Mehr als dreißig Jahre lang hatte er die Welt durchfahren, war von Schiff zu Schiff gewandert, hatte den Lazarettdienst in allen Ecken unserer Kolonien versehen; er hatte die Epidemien an Bord, die gräßlichen Tropenkrankheiten, die Elephantiasis in Cayenne18, die Schlangenbisse in Indien behandelt; er hatte Menschen aller Hautfarben getötet, Gifte an Chinesen ausprobiert, das Leben von Negern bei heiklen Versuchen der Vivisektion aufs Spiel gesetzt. Und heute erschütterte ihn dieses kleine Mädchen mit seinem Halsweh so sehr, daß er nicht mehr schlafen konnte; seine Eisenhände zitterten, seine Vertrautheit mit dem Tode schwand dahin, in der Furcht vor einem verhängnisvollen Ausgang. Und so versuchte er in dem Bestreben, diese unwürdige Gemütsbewegung zu verbergen, so zu tun, als verachte er das Leiden. Man wurde geboren, um zu leiden, wozu sich also darüber aufregen?
Jeden Morgen sagte Lazare zu ihm:
»Versuchen Sie etwas, Doktor, ich flehe Sie an ... Es ist furchtbar, sie kann nicht einmal mehr einen Augenblick einschlafen. Die ganze Nacht hat sie geschrien.«
»Aber zum Himmeldonnerwetter! Das ist nicht meine Schuld«, erwiderte er schließlich aufgebracht. »Ich kann ihr doch nicht den Hals abschneiden, um sie zu heilen.«
Der junge Mann wurde jetzt auch ärgerlich.
»Dann ist also die Medizin zu nichts nütze.«
»Zu gar nichts, wenn die Maschine aus den Fugen gerät ... Chinin unterdrückt das Fieber, ein Abführmittel wirkt auf die Gedärme, einen vom Schlag Getroffenen muß man zur Ader lassen ... Und alles übrige ist Glückssache. Man muß sich auf die Natur verlassen.«
Es waren dies Ausbrüche, die ihm der Zorn über seine Ratlosigkeit entriß. Gewöhnlich wagte er nicht, die Medizin so rundweg zu verneinen, wenngleich er viel zu lange praktiziert hatte, um nicht skeptisch und bescheiden zu sein. Er vertat ganze Stunden damit, am Bett zu sitzen und die Kranke zu beobachten; und er ging fort, ohne auch nur ein Rezept dazulassen, denn ihm waren die Hände gebunden, und er konnte nichts anderes tun, als die vollständige Entwicklung dieses Abszesses abzuwarten, bei der ein Grad mehr oder ein Grad weniger über Leben und Tod entschieden.
Lazare schleppte sich acht volle Tage lang in schrecklichen Ängsten dahin. Auch er erwartete von Minute zu Minute den Urteilsspruch der Natur. Bei jedem mühsamen Atemholen glaubte er, alles ginge zu Ende. Die Phlegmone nahm Gestalt an, wurde zu einem lebendigen Bild, er sah sie ungeheuer groß, die Luftröhre versperrend; noch ein geringes Anschwellen, und die Luft würde nicht mehr durch können. Seine beiden schlecht verdauten Jahre Medizinstudium verdoppelten sein Entsetzen. Und vor allem der Schmerz brachte ihn außer sich, versetzte ihn in nervöse Empörung, in törichten Widerspruch gegen das Dasein. Warum dieser Greuel des Schmerzes? War das nicht alles entsetzlich überflüssig, dieses Gemarter des Fleisches, diese verbrannten und verkrümmten Muskeln, wenn das Übel über einen so zarten und weißen armen
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