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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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ist ... Im Augenblick, das muß man wohl sagen, riecht er nicht gerade gewöhnliche Dinge im Haus ...«
    Sie hielt inne, als sie sah, daß Lazares Augen sich mit Tränen füllten.
    »Gehen Sie doch spazieren, mein Kind«, begann der Doktor wieder. »Sie sind hier nicht von Nutzen. Sie wären draußen besser aufgehoben.«
    Der junge Mann hatte sich schließlich mühsam erhoben.
    »Gehen wir«, sagte er. »Komm, mein armer Mathieu.«
    Als er den Doktor in den Wagen gesetzt hatte, ging er mit dem Hund davon, an der Felsenküste entlang. Von Zeit zu Zeit mußte er stehenbleiben, um auf Mathieu zu warten, denn dieser wurde wirklich sehr alt. Sein Hinterteil wurde lahm, man hörte seine dicken Pfoten wie Hausschuhe über die Erde schleifen. Er wühlte kein Loch mehr im Garten, er sank bald schwindlig nieder, wenn er seinem Schwanz nachjagte. Aber vor allem ermüdete er rasch, hustete, wenn er sich ins Wasser stürzte, legte sich nach einem viertelstündigen Spaziergang schnaufend nieder. Am Strand lief er seinem Herrn zwischen den Beinen herum.
    Lazare blieb einen Augenblick unbeweglich stehen und sah einem Fischerboot aus PortenBessin nach, dessen graues Segel wie die Schwinge einer Möwe dicht über das Wasser streifte. Dann ging er weiter. Seine Mutter würde sterben! dröhnte es mit gewaltigen Schlägen in seinem Innern. Kaum daß er an etwas anderes dachte, erschütterte ihn ein neuer, heftigerer Schlag; und immer wieder war es eine Überraschung für ihn, eine Vorstellung, an die er sich nicht gewöhnen konnte, eine ständig sich erneuernde Bestürzung, die keinen Raum für andere Empfindungen ließ. Für Augenblicke verlor diese Vorstellung sogar an Deutlichkeit, dann war in ihm die quälende Unbestimmtheit eines Alptraums, aus dem einzig die angstvolle Erwartung eines großen Unglücks deutlich hervortrat. Minutenlang verschwand alles, was ihn umgab; wenn er dann den Sand, die Algen, das Meer in der Ferne, diesen unermeßlichen Horizont wieder sah, war er einen Augenblick verwundert, ohne das alles zu erkennen. War er denn hier so oft vorübergegangen? Der Sinn der Dinge schien ihm verändert, niemals war er in ihre Formen noch in ihre Farben so tief eingedrungen. Seine Mutter würde sterben! Und er ging immer weiter, wie um diesem Dröhnen zu entrinnen, das ihn betäubte.
    Auf einmal hörte er ein Schnaufen hinter sich. Er wandte sich um und erkannte den Hund, der mit hängender Zunge am Ende seiner Kraft war. Da sprach er ganz laut:
    »Mein armer Mathieu, du kannst nicht mehr ... Wir gehen nach Hause, komm! Man mag sich noch soviel schütteln, man wird die Gedanken nicht los.«
    Am Abend aß man in Eile. Lazare, dessen zusammengeschnürter Magen nur ein paar Bissen Brot vertrug, beeilte sich, wieder in sein Zimmer hinaufzugehen, wobei er seinem Vater gegenüber den Vorwand einer dringenden Arbeit erfand. Im ersten Stockwerk ging er zu seiner Mutter hinein und zwang sich, sich fünf Minuten hinzusetzen, bevor er sie küßte und ihr eine gute Nacht wünschte. Sie übrigens vergaß ihn völlig, beunruhigte sich nie über das, was er tagsüber machte. Wenn er sich über sie beugte, hielt sie ihm die Wange hin, schien dieses hastige »Gute Nacht« natürlich zu finden, von Stunde zu Stunde mehr in Anspruch genommen von dem instinktiven Egoismus ihres Endes. Und er flüchtete, Pauline kürzte den Besuch ab, indem sie einen Vorwand ersann, um ihn hinauszuschicken.
    Doch bei sich, im großen Zimmer des zweiten Stockwerks, verdoppelte sich Lazares Qual. Es war vor allem die Nacht, die lange Nacht, die auf seinem verwirrten Geist lastete. Er nahm Kerzen mit hinauf, um nicht ohne Licht zu bleiben; er zündete bis zum Tagesanbruch eine nach der anderen an, vom Grauen vor der Dunkelheit gepackt. Wenn er zu Bett gegangen war, versuchte er vergeblich, zu lesen, allein seine alten Medizinbücher interessierten ihn noch; doch auch diese stieß er zurück, er hatte schließlich Angst davor. So blieb er mit offenen Augen auf dem Rücken liegen, mit der einzigen Empfindung, daß in seiner Nähe, hinter der Wand, etwas Entsetzliches geschah, dessen Gewicht ihn erstickte. Der Atem seiner sterbenden Mutter klang ihm in den Ohren, dieser Atem, der so laut geworden war, daß er ihn seit zwei Tagen auf jeder Treppenstufe hörte, wohin er sich nicht mehr wagte, ohne den Schritt zu beschleunigen. Das ganze Haus schien ihn gleich einer Klage auszuhauchen, er vermeinte in seinem Bett davon geschüttelt zu werden, und beunruhigt durch eine

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