Die Freundin meines Sohnes
entgegen, aber der alte Herr schloss mich in die Arme. So alt war er eigentlich ja nicht, er roch bloß so – nach Menthol und Mottenkugel – und fühlte sich durch den weichen Stoff seines Hemdes auch so an.
»Sie sehen gut aus, Pete. Vater zu sein steht Ihnen.« Niels Stern hatte im Gegensatz zu seiner Frau nur einen leichten Akzent, obwohl er bei seiner Ankunft in diesem Land schon zwölf Jahre alt war, sie hingegen erst neun. Er hatte vier ältere Halbbrüder im Holocaust verloren, außerdem ein halbes Dutzend Nichten und Neffen, alle vier Großeltern und eine erschreckende Anzahl von Tanten, Onkeln, Cousins und wer weiß wie vielen Freunden. Sein Vater war stellvertretender Rabbiner in einem bürgerlichen Viertel von Berlin gewesen,er hatte dank einer wenig bekannten Ausnahmeregelung für Geistliche sogar noch das Land verlassen können, als die Auswanderungszahlen schon rasant angestiegen waren. Mr. Stern erzählte ständig davon, wie seine Familie erst nach Memphis und später nach San Francisco, Newark und schließlich Philadelphia gegangen war, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte. Sein Vater, seine Schwester und die Mutter hatten großes Heimweh, und als seine Mutter drei Jahre nach ihrem Umzug nach Tacony starb, sagten alle, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben, obwohl sie vermutlich genau wie ihr Sohn Darmkrebs hatte.
»Du brauchst mich nicht so anzusehen, Pete«, sagte Mr. Stern. »Wie ihr mich anseht, du und mein Sohn, da kriegt man ja Komplexe. Nettie, hast du eine Suppe für die Jungs?«
»Wer hat was von Suppe gesagt?«
»Ich dachte, du kochst mir eine Suppe.«
»Ich hab Plinsen gemacht.«
»Ma, das wär nicht nötig gewesen«, sagte Joe, aber man sah ihm die Begeisterung an. Mrs. Sterns Plinsen waren überirdisch gut, einfach himmlisch: helle Crêpes, gefüllt mit süßem Quark und in Butter angebraten. An freien Wochenenden ist Joe extra dafür von der Pitt nach Hause gefahren.
»Scht«, sagte seine Mutter. »Für dich hab ich die auch nicht gemacht, sondern weil dein Vater nicht anderes mehr essen kann.«
»Ich wollte Suppe.«
»Suppe mache ich dir heute Abend«, sagte Mrs. Stern zu dem Todgeweihten. »Hör auf zu jammern.«
Joe und ich aßen an dem Nachmittag jeder sechs in Sauerrahm schwimmende Plinsen mit Kirschmarmelade. Wir aßen harte Kekse und tranken heißen Tee aus Gläsern und sahen, wie Mr. Stern bei allem mitspielte, Essen in einer Serviette verschwinden ließ und sich dann mit Schmerzen auf dieCouch zurückzog. Er bat uns herüber, damit wir unsere Unterhaltung fortsetzen konnten.
»Das sind die Medikamente. Die laugen mich vollkommen aus. Andererseits ist es schön, endlich mal auszuruhen.«
»Sind sie stark genug, Dad? Soll ich dir was Stärkeres besorgen?«
»Warum was Stärkeres? Mir geht’s gut.«
»Du brauchst das nicht zu sagen, wenn es nicht so ist«, sagte Joe.
»Glaubst du, ich lüge dich an?«
»Du brauchst nicht Superman zu spielen, Dad. Wenn du stärkere Tabletten brauchst, sag es mir einfach.«
»Lass gut sein«, sagte sein Vater. »Meine Ärzte hier tun ihr Möglichstes. Sei mein Sohn, nicht mein Onkologe, ja? Gib mir mal die Decke da rüber.«
Joe legte seinem Vater die Decke über die knochigen Schultern. Der alte Herr seufzte, ließ sich in die Couch sinken. Joe stand auf, zog die Vorhänge zu und entfloh durch die zweiflügelige Tür in die Küche. Vielleicht hatte seine Mutter ja recht, und Joe war, trotz jahrelanger medizinischer Ausbildung, immer noch zartbesaitet.
»Und, was liest du gerade, Peter?«
»Gute Frage.« Ich versuchte Zeit zu gewinnen. Das letzte Buch, von dem ich wenigstens ein Kapitel zu Ende gelesen hatte, war Was Sie erwartet, wenn Sie ein Kind erwarten , ein Schwangerschaftsratgeber, den wir seit vier Jahren bei uns im Schlafzimmer liegen hatten, um uns herauszufordern, um das Schicksal herauszufordern.
»Ist bestimmt nicht leicht, wenn man ein kleines Kind hat. Da hat man keine Zeit, richtig tief in ein Buch einzutauchen.«
»Ich hab überlegt, ob ich mir Moby-Dick noch einmal vornehmen soll«, sagte ich, und das stimmte auch – ich dachte an dieses Buch, seit Joe mir von der Diagnose seines Vaterserzählt hatte. Beim ersten Mal war ich nicht über 70 Seiten hinausgekommen, nicht mal nach Mr. Sterns Lobeshymne.
»Ah, Moby-Dick .« Der alte Herr lächelte, und seine aufgesprungenen Lippen hatten jetzt Farbe. »Das Lieblingsbuch von damals, stimmt’s?«
»Unbedingt«, sagte ich.
Mr. Stern drehte sich zur Wand
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