Die Freundin meines Sohnes
mit mir herum, hoffte, die Seiten des Romans durchdrangen eines Tages die Fasern meines Rucksacks und strömten in mein Nervensystem, ohnedass ich das Buch zu lesen brauchte, was für mich eine Qual bedeutete.
»Die Leute warten immer auf den großen amerikanischen Roman. Sie begreifen anscheinend nicht, dass ein Zollinspektor aus New York den schon vor hundert Jahren geschrieben hat.« Der Besitzer der chemischen Reinigung neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Nur wenige Romane sind so groß und meisterlich wie Moby-Dick . Melville macht unglaubliche Dinge auf diesem Schiff, wechselt Perspektiven, verbringt wunderbare Augenblicke in einer Kirche, einer Pension, im Bauch des Schiffes …« Er verstummte. »Wenn das kein großer amerikanischer Roman ist, was meinst du?«
»Ich, äh… ich weiß nicht …«
»Niels, lass ihn«, sagte Mrs. Stern lächelnd.
»Es ist eine, äh, gute Geschichte«, stammelte ich.
»Das will ich meinen.«
Mein eigener Vater hatte weder Zeit noch Lust zu lesen – wann sollte er das auch tun? In dem schmutzigen Zug nach Midtown, im Stehen, von hundert anderen Pendlern in grauen Anzügen eingeklemmt? Erschöpft auf der Rückfahrt, wo es wieder nur Stehplätze gab? Nach dem Abendessen? Abends schlief er meistens schon mit dem Forward auf den Knien, ein Glas Ginger Ale in der linken Hand, ein. Am Wochenende arbeitete er ebenfalls, oder wir machten gelegentlich einen Ausflug an den Strand nach City Island. Wenn er gute Laune hatte, ging er sonntags manchmal mit uns ins Kino, führte uns ins Yonkers Triplex aus und anschließend zum Essen in den Peking Palace. Seine Ratschläge bezogen sich nicht darauf, welche Bücher wir lesen sollten, sondern warum General Motors eine pannensichere Aktie war oder wo sich der nächste Bunker befand für den Fall, dass die Russen ernst machten. Zweimal im Monat fuhr er in den Lebensmittelladen in der Central Avenue Station und füllte unseren Dosenbohnen-Vorrat auf.
»Und wie jetzt weiter?«, fragte ich Joe, als wir uns auf dem schwierigen Kreuz von 80er, 46er und 95er in Richtung Süden einfädelten. Joe, der von seinen Autofahrer-Künsten überzeugt war, sah böse auf die heranrauschenden Wagen, brachte es aber nicht fertig, ihnen den Mittelfinger zu zeigen.
«Er soll wohl in ein Hospiz«, sagte er, »wir wollen alles tun, um seine Schmerzen so gering wie möglich zu halten, und ihm helfen, seine Angelegenheiten zu regeln. Ein bisschen was essen kann er noch, schlafen auch. Er bekommt ja Kodein. Klagen tut er natürlich nicht.«
»Natürlich.«
»Trotzdem, es ist so gemein, vor allem für meine Mutter.« Joe trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, rieb sich dann die kahle Stelle auf dem Kopf. Er wäre gern woanders gewesen. »Sie sind noch zu jung für sowas.«
»Wie hält sie sich?«
»Es wechselt zwischen Verdrängen und Zorn«, sagte er. »Mal tut sie so, als würde alles wieder gut, mal zetert sie gegen die Ärzte, so als wären wir daran schuld, dass mein Vater Krebs bekommen hat.«
»Du weißt doch, wie trauernde Menschen sind.«
»Ich hab ihm jahrelang gepredigt, er soll mal eine Darmspiegelung machen lassen. Er wollte nicht. Wir haben uns darüber gestritten. Auch darüber, dass eine halbe Schachtel Zigaretten am Tag zu viel ist …«
»Er hatte halt seinen eigenen Kopf.«
Joe zuckte mit den Achseln, sah in den Rückspiegel. »Sie haben alle ihren eigenen Kopf, das ist es ja«, sagte er. »So sind sie erzogen worden. So haben sie uns erzogen, so haben sie ihren Alltag gemeistert. Sie schuften wie die Tiere. Mein Dad im Laden, deiner bei der Versicherung. Die haben sich richtig kaputt gemacht. Die ganze Plackerei, jeden Tag. Sie haben härter gearbeitet, als ich es mein Lebtag je tun werde. Undsich nie angeschnallt, nie die Zigarette ausgemacht, sind nie zur Darmspiegelung gegangen.«
»Die Sicherheitsgurte sind zu spät erfunden worden.«
»Das ist keine Entschuldigung«, sagte Joe.
Unsere Väter hatten beide den größten Teil ihrer besten Jahre damit verbracht, Dinge zu tun, die nicht ihrer Neigung entsprachen: Joes Vater in seinem Geschäft, mein Vater, der die Ninth Avenue mit seiner Aktentasche aus weichem Leder unter dem Arm abklapperte. Versicherungen brauchen die Leute immer, wurde er nicht müde, uns ins Gedächtnis zu rufen, und er hörte nie auf, welche verkaufen zu wollen.
Aber uns zuliebe nahm mein Vater sich gleich ein ganzes Wochenende frei, und wir fuhren weit hinein nach Westchester, ich auf dem Beifahrersitz
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