Die Freundin meines Sohnes
Vaters denken.Ich entschied mich, auf meine Frau zu hören, holte tief Luft, atmete mit geschürzten Lippen aus. Während wir über die Brücke fuhren und Manhattan hinter uns ließen, wurde Ravel von Chopin abgelöst. Ich wollte mich ganz auf die Musik konzentrieren, wollte das Bild der beiden auslöschen, die sich in dem Restaurant geküsst hatten, und zwar ganz beiläufig, so als küssten sie sich schon ihr ganzes Leben lang. Aber es war zwecklos.
»Ich kann doch nicht zulassen, dass ihm sein Leben entgleitet, Elaine. Er ist unser einziger Sohn. Er ist unsere einzige Chance, um …« Jetzt die George-Washington-Brücke, gewaltige graue Stahltaue, eine riesige amerikanische Flagge. Dann der Palisades Parkway. Schnee in den Weißdornhecken.
»Um was?«
Kahle Äste und dunkelgrüne Kiefern säumten die Straße zu beiden Seiten. Am Seitenstreifen eine kleine Hirschkuh. Unsere einzige Chance, um zu gewährleisten, dass etwas von uns blieb. Um künftige glückliche Generationen zu gewährleisten. Die Kinder wettzumachen, die wir nicht hatten.
»Um was, Peter?«, fragte Elaine noch einmal.
»Um alles richtig zu machen.«
»O Schatz, das verspreche ich dir.« Sie hielt beim Fahren meine linke Hand in ihrer rechten. »Ich verspreche dir, wir haben schon alles richtig gemacht.«
Meine Frau hatte unsere ganze Ehe hindurch mir vertraut, in diesem Moment hätte ich ihr vertrauen sollen. Stattdessen starrte ich zum Fenster hinaus auf die Strecke, die ich mir schon vor Jahren genauestens eingeprägt hatte – die Hirsche, die Bäume, die Schulen, die Wegweiser –, und überlegte, was ich tun musste, um meinen Sohn zu retten.
KAPITEL SIEBEN
S echs Jahre war es her, dass Elaine an einem Dienstagvormittag einen kleinen Knoten an ihrer linken Brust entdeckte, als sie bei Macy’s einen neuen Sport-BH anprobierte. Eine Woche lang unternahm sie nichts, hoffte, er würde weggehen, und manchmal war er auch für ein paar Stunden verschwunden, dann aber wieder da, wenn ihre panischen Finger tiefer tasteten. Am Dienstag darauf ein Termin bei Rhonda Nighly, eine Biopsie und eine Diagnose: invasives Drüsengangskarzinom vom Stadium 2 B, Lymphknoten nicht befallen. Die Prognose war, alles in allem, nicht so schlecht. Als Rhonda die Testergebnisse hatte, bat sie Elaine, sofort zu kommen, aber Elaine hatte um zehn Uhr Unterricht und schaffte es irgendwie, an der Bergen State University die Erzählung der Frau aus Bath auszulegen, während Rhonda Nighlys Praxisgehilfin ihre Ergebnisse in eine Patientendatenbank eingab. Am Nachmittag gingen Elaine und ich gemeinsam in Rhondas Sprechstunde, ich hörte mir die Ergebnisse an und fragte Rhonda nach allem, was ich aus dem Medizinstudium noch über Drüsengangskarzinome wusste. Dabei hielt ich Elaine die ganze Zeit fest im Arm.
»Wie ist die Prognose?«
»Wir machen eine OP und Chemo, vermutlich sechs bis acht Zyklen. Der Krebs ist hormonrezeptiv, deshalb geben wir ihr zuerst Tamoxifen. Nichts sehr Aggressives.«
»Und dann?«
»Wir haben es relativ früh entdeckt, Pete.« Dieses »wir« andauernd, was sollte das? Elaine hatte den Knoten entdeckt,Elaine wurde operiert, Elaine allein musste die Chemo durchstehen. Wir konnten ihr beistehen, mehr nicht, und unser Bestes tun und uns unseren Aberglauben und unsere Zweifel nicht anmerken lassen. Vielleicht lag es an diesem leutseligen »wir«, oder aber es war nur meine Panik – als der Operationstermin bestimmt werden musste, bat ich Rhonda Nighly wie aus der Pistole geschossen, so stolz ich auch sonst auf unseren gemeinsamen Arbeitsplatz war, sie solle uns an die Columbia schicken.
»An die Columbia?«, fragte Rhonda. »Hätten Sie sie nicht lieber in der Nähe? Elaine, wären Sie nicht lieber hier?«
Elaine schaute mich aus treuen Rehaugen an. »Hättest du mich lieber an der Columbia, Pete?«
Es gab keinen Grund, warum die mehr als kompetenten Chirurgen am Round Hill die OP nicht hinkriegen sollten, und trotzdem erklärte ich allen, dass ich, vorausgesetzt, die Damen hätten keine Einwände, mich wohler fühlen würde, wenn es in einer uns weniger vertrauten Klinik gemacht wurde, denn falls, was Gott verhüten möge, irgendetwas schiefging… aber, ehrlich gesagt, darum ging es nicht. Wie so viele Round Hiller, denen eine Niere oder ein Teil der Schilddrüse entfernt werden musste oder die einen Kaiserschnitt vor sich hatten, wollte ich den Markennamen des New Yorker Ivy-League-Lehrkrankenhauses für meine Frau und ihre OP, die
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