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Die Freundin meines Sohnes

Die Freundin meines Sohnes

Titel: Die Freundin meines Sohnes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Grodstein
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noch gegen die nächstbesten Blumen. Zehn Meter weiter weg starrte Laura zum Eingangstor hinaus und paffte genüsslich eine Marlboro.
    »Ja?«
    »Na ja, es ist verrückt, aber … glaubst du, Großvater hat sich schon zersetzt?«, fragte er. »Wie lange dauert es wohl, bis ein menschlicher Körper verfault? Ist er tatsächlich noch hier? Oder halten wir die Zeremonie für einen Knochenhaufen ab?«
    »Ist das dein Ernst?«
    »Ja«, sagte er, schaute schuldbewusst, aber ich wusste, dass er nicht provozieren wollte – er hatte sich schon immer für Biologie interessiert –, und er trat auch nicht mehr an die Narzissen und schob die Hände tief in seine Taschen. Ehrlich gesagt hatte ich darüber im vergangenen Jahr selbst nachgedacht, und diese Gedanken waren mir in seltsamen Momenten gekommen: beim Einschlafen, während Elaine neben mir tief atmete, beim Aufwachen, wenn sie schon aufgestanden war, beim ersten kräftigen morgendlichen Urinieren, wenn ich meine Hängebäckchen im Spiegel über dem Waschbecken erblickte. Altern, Altern, Tod, und wir sind weg.
    »Dad?«
    Ich atmete ein, die kühle Luft war angenehm. »Ich nehme an, dass sich der Großteil des Fleisches zersetzt hat«, sagte ich. »Aber die Knochen sind noch da. Die Kleider. Haare. Wir haben einen ebenierten Sarg genommen, das bedeutet, es dauert länger, bis sein Körper zerfällt.«
    »Warum habt ihr das gemacht?«
    »Ich weiß nicht mehr«, sagte ich. »Ich glaube, deine Großmutter wollte es so.«
    »Quält es dich nicht, zu wissen, dass er da unten liegt?«
    »Nein«, sagte ich überrascht. Mein Sohn erkundigte sich nur selten nach meinen Empfindungen. »Quält es dich?«
    »Die ganze Zeit«, sagte Alec. »Die ganze Zeit quält es mich«, wiederholte er. Und dann ging er in Richtung Eingang davon, zu Laura.
    Ein paar Meter entfernt bei den anderen stand – ich sah es, obwohl ich noch nicht so weit war, hingehen zu können – frisch poliert unter dem darüber gebreiteten Seihtuch, der Grabstein meines Vater. Ich ertrug den Anblick nicht. Mein Vater war exakt so groß wie meine Mutter gewesen, und mit der Zeit waren beide auf exakt dieselbe Weise geschrumpft, manchmal waren sie einer am Arm des anderen gegangen, und ihre Köpfe hatten sich fast am Haupt berührt. Ich brachte es nicht fertig, auf das Grab zu blicken. Knochen, Kleidung, Haar.
    Doch dann rief uns der Rabbi mit dem roten Gesichtchen zusammen, und ich konnte mich nicht mehr drücken.
    Nach einem kurzen Routine-Gottesdienst mit hebräischen Gebeten und den entsprechenden Worten des Gedenkens, würdevollen Tränen meiner Mutter, dem Entfernen des Seihtuchs, kummervollen Blicken und noch mehr Hebräisch – bei alledem hielt mein Bruder sich dicht neben meiner Mutter –, aßen wir in einem italienischen Restaurant gegenüber der Rennbahn zu Mittag, in einem separaten Raum, der mit hufeisenförmig angeordneten Chrysanthemensträußen geschmückt war.
    »Was Besseres haben sie nicht gefunden?«, hörte ich Iris Elaine zuflüstern, als wir hineingingen.
    »Niemand wollte weit fahren.«
    Ich saß neben meiner Mutter, Elaine neben den Sterns, diverse Vettern füllten die Plätze dazwischen. Laura und Alec quetschten sich in der Mitte des Tisches, ihnen gegenüberLindsey und Phil. Die vier unterhielten sich so angeregt, dass sie auf keinen von uns anderen achteten und ewig nicht ans Buffet gingen. Ich sah Phil an, dass er entzückt war, nach all den Jahren einmal leibhaftig mit Laura zusammenzutreffen, der Kindsmörderin, und als das Enkel meines Cousins Marvin einmal in Lauras Richtung weitergereicht wurde und sie es mit geübtem Griff kurz hielt und mit ihm alberte, starrte mein Bruder sie regelrecht an.
    »Und, wie läuft’s mit der Medizin?« Mein Cousin Norman, der dritte und manierlichste Sohn meiner Tante Iz, saß still rechts neben mir. Norm komponierte seit neuestem Musik und wohnte meines Wissens in einer kleinen Wohnung in Yonkers, noch immer in derselben Straße, in der er aufgewachsen war. Tante Iz hatte ihn bis zum Tag ihres Todes immer als Reinfall, als Versager bezeichnet, was wirklich gemein war. Aber der kleine Norm mit der ständig triefenden Nase hatte einfach etwas an sich, das danach schrie, verhöhnt zu werden, sogar von seiner eigenen Mutter.
    »Mit der Medizin? Nicht schlecht, Gott sei Dank.« Ein Vormittag mit meiner Familie, und schon hatte ich mir deren Sprechweise angeeignet.
    »Du bist Herzchirurg, oder?«, fragte er in seiner verträumten Art.
    »Nein, bloß

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