Die Friesenrose
etwas sehr Reales. Und genau dazu hatten mich damals wohl die unendliche Einsamkeit – ohne eine sinnvolle Aufgabe – und das Warten auf meinen Vater gebracht. Noch vor seiner Abreise hatte er mich getröstet. ,Es wird nicht lange dauern, und einer der jungen Männer wird um deine Hand anhalten, mein Kind. Du wirst ihm den Haushalt führen, Kinder haben und glücklich sein.‘ So stellte er sich meine Zukunft vor, und vielleicht wollte ich es ihm leicht machen und seiner Vorstellung entsprechen. Auf jeden Fall habe ich mich verliebt, nur hat Hans nie ummeine Hand angehalten. Kennen gelernt habe ich ihn an einem heißen Julitag am Hafen, wo er mithalf, Kisten mit Waren von einem Schiff zu laden. Er war groß und kräftig, und etwas Animalisches ging von ihm aus, etwas Gefährliches, das ich anfangs jedoch faszinierend fand. Unter den aufgerollten Ärmeln seines Hemdes traten kräftige Muskeln hervor, und über seinem üppigen Bart funkelte ein Paar leuchtendblaue Augen. An diesem Sommertag nun versuchte wieder einmal einer der Hafenarbeiter, mich zu einem Kuss zu überreden. Ich tat, was in solchen Fällen unerlässlich ist. Erst erhielt der Bursche eine Backpfeife, und beim zweiten handgreiflichen Versuch traf ihn mein Fuß an einer besonders empfindlichen Stelle seines Körpers. Hans hatte uns beobachtet, und ein drittes Mal gab es für den Hafenarbeiter nicht. Durch sein beherztes Eingreifen hatte Hans leichtes Spiel mit mir. Und mit der Frage: ’Na, Kleine, schon was vor heute Abend?‘, begann eine Liaison, die im wahren Grauen endete.“
Tjalda schwieg und war für einen Augenblick weit fort. „Mein Gott, wie konnte es nur so weit kommen.“ Kaum hörbar kamen die Worte über ihre Lippen, und Sumi und Inken tauschten Blicke. In welch dunkler Kammer des Gestern mochte sich Tjalda wohl gerade befinden?
Inken berührte die Geldhändlerin sanft am Arm. „Was auch immer geschehen ist, du musst es uns nicht erzählen.“
„Ich will es aber.“ Tjalda legte ihre Hände an die erhitzten Wangen und fuhr dann entschlossen fort. „Um es kurz zu machen, Hans war nicht weniger ein Haderlump, als mein Großvater es gewesen war. Er trank zwar nicht, war aber für seine Schlägereien überall bekannt. Davon wusste ich natürlich nichts, und am Anfang erzählte mir auch niemand davon. Wahrscheinlich hätte ich auch sowieso jeden guten Ratschlag in den Wind geschlagen. Denn wenn man verliebtist, ist der Auserwählte immer vollkommen. Oft habe ich mich gefragt, warum Hans gerade mich als sein neues Liebchen auswählte. Vielleicht war ausschlaggebend, dass ich nicht wehrlos geblieben bin damals am Hafen. Vielleicht hat Hans auch instinktiv gespürt, dass ich ein sehr freiheitsliebender Mensch bin, was ihn besonders aufgestachelt hat. Denn er liebte es, Macht über andere auszuüben. Und wenn sich ihm jemand entzog, forderte ihn das erst recht heraus. Anfangs war alles wunderbar. Hans machte mir den Hof, und ich war glücklich. Endlich gab es keine einsamen Tage und auch keine einsamen Nächte mehr, nachdem Hans mir klargemacht hatte, was er von einem Mädchen erwartete. Da war das Haus meines Vaters, und wir hatten es ganz für uns allein. Damals dachte ich, Hans sähe seine zukünftige Braut in mir, ich Dummchen. Doch meine Rolle war nur die einer Bettgespielin, und davon gab es viele. Hans lachte, als ich ihn nach Plänen für die Zukunft fragte. ,Leben‘, sagte er, ,ich will leben und sonst nichts. Familie ist was für Reiche.‘ An diesem Abend hat er mich zum ersten Mal geschlagen. Nur weil ich es mir erlaubte, Zukunftspläne zu schmieden und ihn mit darin einzubeziehen. ,Wie kannst du es wagen, mich an die Leine legen zu wollen!‘, schrie er mich an. Es war derselbe Abend, an dem auch meine Liebe zu ihm starb. Ich wollte unsere Beziehung beenden, doch Hans ließ mich nicht gehen. ,Ich ganz alleine sage einem Weibsbild, wann ich genug habe‘, erklärte er mir kalt, als ich es wagte, ihn um meine Freiheit zu bitten, was ich sofort bitter bereute. Dem Arzt erzählte ich später von Schwindelgefühlen, die zu einem Sturz geführt hätten. Bei dem vermeintlichen Sturz habe ich nicht nur äußerliche Wunden davongetragen, sondern auch das Kind verloren, das begonnen hatte, in mir zu wachsen. Vielleicht war es besser so. Obwohl ich dieses Kind zeit meinesLebens vermisst habe. Ich beschloss, kein zweites Mal von diesem Schuft schwanger zu werden, und es gelang mir.
Zu dieser Zeit wartete ich mit jeder Faser meines
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