Die Friesenrose
Herzens auf die Rückkehr meines Vaters. Er würde alles wieder ins Lot bringen, dessen war ich mir sicher. Allein diese Hoffnung machte das Leben erträglich für mich, denn es war eine furchtbare Zeit damals. Die Angst vor Hans’ Brutalität wurde zu meinem täglichen Begleiter. Ich fühlte mich erniedrigt und schwächlich und schämte mich meines Verhaltens, sobald ich an Rosa dachte. Sie hätte sich nicht unterkriegen lassen, das war mir klar. Und in solchen Augenblicken konnte ich die Tränen nicht zurückhalten.“
Tjalda schwieg für einen Augenblick. Es war ganz still, und zum ersten Mal bemerkte Inken, wie laut das Ticken einer Uhr sein konnte. Wie lange saßen sie schon hier zusammen? Seit dem frühen Abend war viel Zeit vergangen, und Tjaldas Geschichte war an ihnen vorbeigezogen wie ein bunter Bilderreigen. Zorn überkam Inken, wenn sie daran dachte, was Hans ihrer Freundin angetan hatte. Bitter dachte sie, dass auch Tjalda, genau wie sie, von einem Mann enttäuscht worden war. Wie schrecklich es für sie gewesen sein musste, als junges Mädchen, ganz alleine, in die Fänge eines solchen Mannes zu geraten. Da waren selbst die Jahre im Moor mit Tante Tine an ihrer Seite noch erträglicher gewesen. Warum aber hatte Tjalda keiner ihrer Nachbarn und alten Freunde geholfen? Oder war Tjalda vielleicht zu stolz gewesen und hatte ihre Angst und Verzweiflung vor allen verborgen?
„Wie gesagt, ich hoffte auf die Hilfe meines Vaters“, durchbrach Tjalda ihre Überlegungen mit leicht bebender Stimme. „Doch er konnte mir nicht mehr helfen. Sein Schiff war im Sturm untergegangen, und die gesamte Besatzung hatte ihr Leben verloren. Und zusammen mit meinem Vaterund seinem Schiff waren auch meine Hoffnungen und all mein Vertrauen, das ich jemals in Gott gesetzt hatte, untergegangen. Als Kind glaubte ich, Gott habe ein Abkommen mit Vater getroffen. Mein geliebter mutiger Vater würde das wilde Meer bereisen und Gutes tun, indem er Nachrichten und Waren von einer Küste zur anderen beförderte. Und dafür würde Gott ihn verschonen. All die anderen, die das Meer sich nahm, waren in meinen Augen schuldig an Gott geworden, auf welche Weise auch immer, und mussten deshalb dafür büßen. So hatte ich es mir als Kind zurechtgelegt, damit die Furcht um Vater mich nicht auffraß. Und dieser kindliche Gedanke hatte sich so sehr in mir festgesetzt, dass er mir zur Gewissheit geworden war. Daher traf es mich wie ein Faustschlag, als die Nachricht vom Untergang seines Schiffes eintraf. Mein Glaube an Gott erfuhr eine so tiefe Erschütterung, dass ich mich nie wieder davon erholte. Und ich beschloss damals, mein Schicksal niemals wieder in seine Hände zu legen, sonders selbst meines Glückes Schmied zu sein. Doch im ersten Moment war ich zu keinem klaren Gedanken mehr fähig und habe den Männern, die mir die Unglücksbotschaft überbrachten, zunächst nicht geglaubt. Ich war überzeugt, sie würden sich täuschen. Der Mensch, den ich am meisten auf der Welt liebte, auf dessen Rückkehr ich flehentlich hoffte, sollte einfach nicht mehr da sein? Aber dann, als mir klar wurde, dass es die Wahrheit war, zerbrach etwas in mir.
Der Leichnam meines Vaters wurde nie gefunden. Es gab eine Trauerfeier ohne Toten, die nur ein kleiner Teil von mir mit großer Klarheit wahrnahm, während der übrige Rest wie in einem Albtraum gefangen war. Ich konnte nicht länger in Bremen bleiben. Ich musste weg von allem, was mich an Vater erinnerte. Und ich musste vor allen Dingen weg von Hans, der eine Heirat nun doch nicht mehr für ganz so abwegighielt, was vermutlich mit meinem vermeintlichen Erbe zusammenhing. Doch obwohl Vater ein eigenes Haus und ein Schiff besessen hatte, stellte sich meine finanzielle Situation alles andere als rosig dar. Mit anderen Worten, ich stand ohne einen Pfifferling da.“
Sumi blickte sie ungläubig an.
„Das ist doch nicht möglich“, beugte Inken sich zu ihr vor.
„Leider doch. Denn wenige Wochen vor seiner letzten Fahrt hatte mein Vater noch von einem gewinnträchtigen Geschäft gehört und dafür kurzfristig unser Haus und sein Schiff beliehen. Er wollte wohl das große Geld machen, um mir ein kleines Vermögen für die Zukunft zu sichern. So verstand ich im Nachhinein zumindest seine geheimnisvollen Reden von einer reichen Aussteuer und guten Mitgift. Er riskierte alles, was er hatte – und verlor. Mir blieben nur die Kleider, die ich am Leib trug und wenige andere Habseligkeiten.“
Tjalda stöhnte
Weitere Kostenlose Bücher