Die Friesenrose
Leben an Rosas Seite gewesen. In meiner Verzweiflung stahl ich mich manchmal an einen See, der in der Nähe lag. Dort saß ich im Gras und stellte mir mit geschlossenen Augen vor, wieder zu Hause zu sein. Selbst die Möwen und ihre Schreie nahmen in meinen Tagträumen Gestalt an. In dieser Zeit betete ich um eine schnelle Rückkehr meines Vaters und lebte nur für die Tage, an denen er mich holen kam. Die Zeit in der Mädchenschule wurde mir immer schwerer. Ich war so ungezwungen aufgewachsen, dass nichts in meinem Verhalten den dort geforderten Regeln für ein zurückhaltendes weibliches Auftreten entsprach. Die Lehrerinnen trieb mein unangemessenes Benehmen regelmäßig zur Verzweiflung. ,So wirst du niemals einen Mann finden!’, warnten sie mich. Jeder halbwegs vernünftige Kandidat wird sich verschreckt von dir abwenden.‘ Mich interessierten solche Reden jedoch nicht. Und obwohl ich damals recht hübsch war, sollten die Lehrerinnen dennoch Recht damit behalten, dass sich in späteren Jahren, nach näherem Kennenlernen, so mancher Herr meist schleunigst wieder von mir verabschiedete.
Mein loses Mundwerk und meine spöttischen Kommentare sorgten in der Mädchenschule fast täglich für Aufruhr und brachten mir wenig Freundschaften und so manchen Strafdienst ein. Ich sprach zu laut, lachte zu viel und amüsierte mich zu offenherzig über die Kleidung und die Angewohnheitendes Lehrpersonals. In dem, was uns beigebracht wurde, sah und sehe ich bis heute keinen Sinn. Nichts davon hat mir im Leben weitergeholfen, wenn man vom Kochen einmal absieht. Das Ziel der Mädchenschule war es, anschmiegsame, mit Koch- und Nähkünsten ausgestattete, niemals widersprechende Geschöpfe aus uns zu machen. Weiblich nachgiebiges Verhalten und unauffällige Unterstützung des zukünftigen Gemahls standen hoch im Kurs. Allein den wenigen Mathematikstunden fieberte ich entgegen. Niemals durften wir rennen, geschweige denn barfuß gehen, außer bei den Leibesübungsstunden. Bei Ausflügen mussten wir paarweise hintereinander hergehen, und lautes Lachen oder anzügliche Witze, wie ich sie von Rosas Kunden kannte, gab es nicht. Und stellt euch vor, einmal hat mich die Schulleiterin im Schneidersitz im Gras entdeckt. Sie war völlig außer sich und nannte mich liederlich und mannstoll. Ein böses Ende hat sie mir prophezeit, denn ein junges Mädchen, das seine Beine nicht immer geschlossen hielte, fordere die Männer zu den unaussprechlichsten Taten heraus. Mein Verhalten wurde hinter verschlossen Türen debattiert, und ich hatte es nur der guten Zahlungsmoral meines Vaters zu verdanken, dass ich bleiben durfte.“
Sumi neigte Tjalda den Kopf zu. „Diese mitfühlende Frau kann sich vorstellen, wie lang der Freundin die Jahre geworden sind.“
„Darauf kannst du wetten, Sumi“, nickte Tjalda zustimmend. „Ich glaube, die Lehrerinnen waren fast so froh wie ich, als unsere gemeinsame Zeit ein Ende fand. Ich kehrte freudestrahlend und mit einem Gefühl von Freiheit im Herzen nach Bremen zurück und glaubte, es würde alles so sein wie früher. Nach der langen Zeit qualvollen Heimwehs hatte ich mir das Danach immer wie das Paradies vorgestellt. Dochohne Rosa war nichts mehr so wie früher. Alles hatte sich verändert, und auch ich war eine andere geworden. Wo war das leichtfüßige Mädchen geblieben, das so gerne den Geschichten der Großmutter gelauscht hatte? Verwirrt begriff ich, dass sich eine Tür für immer geschlossen hatte, und eine neue schien sich einfach nicht öffnen zu wollen. Ich war kein Kind mehr, und die Jahre hinter verschlossenen Mauern und ohne Menschen, die mich liebten, hatten mich unzugänglich werden lassen. Viele meiner vermeintlichen ehemaligen Freunde wandten sich von mir ab. Und ich tat so, als ob mich das nicht kümmerte. Doch so war es nicht. Meine Schroffheit, entstanden durch den ständigen Widerstand gegen alles und jeden, war zu einem Teil von mir geworden, den ich nie mehr ablegen konnte.“
„Wir lieben dich so, wie du bist“, beschwichtigte Inken. „Ohne deine Schroffheit wärst du nicht die Tjalda, die uns gefällt. Außerdem kennen wir deinen weichen Kern.“
„Ich kann euch nur dankbar dafür sein. Weißt du, einmal habe ich versucht, lieblicher zu werden, Inken. Das war, als ich Hans kennen lernte. Ob ich ihn geliebt habe, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht ist Liebe nur ein Wunschdenken, etwas, das es gar nicht gibt. Sich verlieben und mit dem Kopf in den Wolken hängen ist allerdings
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