Die Friesenrose
Hinderk. Ich lass dann gleich nach Arthur schicken. ’nen besseren Arzt gibt es auf dem Festland auch nicht.“
„Ist gut. Ich werde hier das Kapitänskommando übernehmen. Die Borkumer Fischer können den Frachter um einen Teil der Waren erleichtern, damit wir bei auflaufendem Wasser wieder flott werden. In Emden werde ich mich mit Neehus zusammensetzen und ihm alles erklären. Er soll entscheiden, was mit den Brüdern geschehen soll, und dafür sorgen, dass die Fischer von Borkum eine ehrliche Entlohnung erhalten.“
Aus den Augenwinkeln sah Inken, dass Dirk Harms einenSchritt zurückgewichen war. Ein böses Glitzern lag in seinen Augen, und plötzlich ging alles ganz schnell. Mit einem Sprung war Dirk Harms an ihrer Seite, bevor sie ausweichen konnte, umschlag mit einem Arm ihre Taille und bedrohte sie mit seinem Messer.
„Ich schneide ihr die Kehle durch, wenn auch nur einer einen Schritt näher kommt“, rief er.
Hinderk Inkens blieb sofort stehen. „So ist es recht“, lobte Dirk Harms. „Und jetzt will ich euch alle, die komplette Besatzung und Sie“ – er nickte Inkens Vater zu – „vor mir in Reih und Glied stehen sehen.“ Schweigend bauten sich die Männer vor ihm auf. „Freerk, komm an meine Seite.“ Triumph klang in Harms’ Stimme.
Inken verharrte unterdessen wie gelähmt in der schmerzhaften Stellung. In ihrem Kopf aber arbeitete es fieberhaft. Wenn sie sich doch nur befreien könnte! Aber wie?
„So.“ Zufrieden blickte Dirk Harms in die Runde. „Niemand wird von Bord gebracht, außer meinem Bruder, diesem schönen Kind hier und mir!“, schrie er. „Und wenn ihr alle hübsch artig genau das tut, was wir euch sagen, wird der Rothaarigen auch nichts geschehen. Ansonsten aber … “ Er ritzte Inkens Haut, so dass ein dünnes rotes Rinnsal ihren Hals hinabfloss. Hinderk Inkens schrie auf. Aber Dirk Harms lachte nur.
„Nehmen Sie doch Vernunft an“, bat Inkens Vater ihn inständig. „Sie machen durch diese Tat alles nur noch schlimmer.“
„Kein Gerede mehr.“ Mit kaltem Blick maß Dirk Harms sein Gegenüber. „Komm, Freerk, wir verlassen jetzt ganz schnell diesen ungemütlichen Ort.“
Inken blickte zu ihrem Vater und sah die Angst in seinen Augen, aber auch noch etwas anderes, das sie nicht zu deutenwusste. Gleichzeitig spürte sie, wie sich der Griff von Harms’ Arm, mit dem er sie umklammert hielt, für einen Moment lockerte. Dies war vielleicht ihre einzige Chance, sich zu befreien. Und so gab Inken vor, ohnmächtig zu werden und glitt wie ein Sack Mehl zu Boden. Ihre unerwartete Reaktion überraschte Dirk Harms. Er ließ sie los. „Jetzt!“, ging es Inken durch den Sinn. Sie fuhr herum wie eine Wildkatze, doch bevor sie ihre zur Faust geballte Hand in sein Gesicht schlagen konnte, tat dies schon ein anderer. Wie ein Schatten war Cirk hinter ihr aufgetaucht. Einen Moment lang wankte er, doch dann verengten sich seine Augen zu Schlitzen. Er stürzte sich auf Dirk Harms, und ein durchdringender Schmerzensschrei gellte durch die Luft. Harms’ Hände sanken herab, dann fiel er zu Boden. Inken riss ihm blitzschnell das Messer aus der schlaffen Hand und warf es ihrem Vater zu.
Die Mannschaft schrie durcheinander. Zwei Männer hielten Dirk Harms sicherheitshalber auf den Planken fest, während andere verlangten, ihn ins Meer zu werfen. Doch wieder gelang es Inkens Vater, die Wut der Mannschaft zu zügeln.
Niemand schien auf Cirk zu achten, der nur Augen für Inken hatte. Er sah furchtbar aus. Unrasiert und die Augen blutunterlaufen, hatte seine Haut eine grauweiße Färbung angenommen. Inken merkte kaum, dass sie vor Bestürzung einen Schritt auf ihn zugegangen war. Cirk dagegen war stehen geblieben, wo er war, und zunächst hatte es den Anschein, als würde er sie für ein Traumgebilde halten. Dann aber streckte er die Arme nach ihr aus.
„Inken!“ Seine Stimme war kaum zu verstehen, doch ein Lächeln flog über sein Gesicht wie ein zögernder Sonnenstrahl.
In Inken kämpften die widersprüchlichsten Gefühle: Wut, Mitleid, Enttäuschung und Verachtung, und doch war da tiefin ihrem Inneren auch eine Wärme, die sie verwirrte und die sie nicht deuten konnte und wollte.
Als Cirk einen Schritt auf sie zukam, bemerkte Inken, dass er wankte. Und dann, als ob ihn die letzten Kräfte verlassen hätten, stürzte er vor ihren Augen wie ein gefällter Baum zu Boden.
Böses Erwachen
Cirk bemühte sich, der Finsternis zu entkommen, die ihn umgab. Es war, als müsse er sich
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