Die Friesenrose
eigenartigen Weise, in der man sich selbst manchmal im Traum sieht, sah Inken sich plötzlich als Mädchen von zehn Jahren mit langem, lose fallendem Haar, den Weg vomStrand kommen. In der Hand hielt sie die Ranke eines Geißblattes, dessen betörenden Duft sie noch jetzt zu riechen vermeinte.
„Ich kann mich erinnern, dass die Blumen am frühen Abend am schönsten aussahen, wenn ihre Farben im glutroten Schein der im Meer versinkenden Sonne aufleuchteten“, hörte Inken sich mit belegter Stimme sagen. „Doch die harte Stimme, mit der Tante Rinelda mich zum Essen rief, ließ den Zauber schnell verfliegen.“
„Rinelda, ach ja.“ Tante Tine lachte leise. „Sie war nicht sehr umgänglich zu meiner Zeit, und das wird sich mit den Jahren wohl nicht geändert haben. Ich weiß, dass Hinderk nur der Not gehorchte, als er ihr nach Amkes Tod das Zepter in die Hand gab. Ihn lockte das Meer mehr denn je, und du warst noch ein kleines Kind.“
„Ich mochte sie nicht.“ Inken schauderte.
„War sie nicht eine entfernte Verwandte deiner Mutter?“ Tante Tine zog die Nase kraus.
Inken nickte. „Ihr Cousine, um genau zu sein. Als ich begann, ihr Aussehen wahrzunehmen, kam Tante Rinelda mir immer wie ein Walross vor, so dick und unbeweglich. Während ich selbst ein wieselflinkes Kind und äußerst lebhaft war. Das hat Tante Rinelda großen Kummer bereitet. Trotz all ihrer Bemühungen schaffte sie es nicht, ein zurückhaltendes Mädchen aus mir zu machen, das Freude an der Hausarbeit hat. Außerdem störte sie sich beständig an meinem roten Haar. ,Rotes Haar und Sommersprossen, sind des Teufels Artgenossen‘, pflegte sie zu sagen und hätte mich im Sommer am liebsten eingesperrt, um zumindest den Sommersprossen Einhalt zu gebieten.“ Inken schüttelte den Kopf. „Ich bin ihr so gut es ging aus dem Weg gegangen. Die Insel bot viele Fluchtmöglichkeiten. Aber häufig genug konnte ich ihr nichtentkommen und war ihren Versuchen, eine brauchbare Hausfrau aus mir zu machen, hilflos ausgesetzt.“
Inken schloss die Augen, und in ihrem Kopf nahm die Küche ihres Elternhauses Gestalt an. Der Duft von frisch gebackenem Brot stieg ihr in die Nase. Sie sah die Anrichte, auf der sich das Geschirr stapelte, und die Porzellanwanne, in der es gereinigt wurde. Daneben eine Schale mit frischen Eiern. An den Eichenbalken in der Küche hingen duftende Kräuterbündel aus dem Garten ihrer Mutter. Neben dem schwarzen, offenen Herd saß, verdrießlich schauend, Tante Rinelda in einem Schaukelstuhl. Sie selbst rollte auf dem sauber gescheuerten Holztisch Teig aus. Inken sah alles so deutlich vor sich, als bräuchte sie sich nur zu recken, um Tante Rinelda berühren zu können. Tante Rinelda mit der gestärkten weißen Schürze und den missbilligend vorgeschobenen Lippen, klein und rundlich. Das weiße Haar trug sie unter dem altmodischen Spitzenhäubchen zu einem Knoten frisiert. Und jetzt, im Schaukelstuhl, glühten ihre Wangen, die Augen blitzen böse, und mit dem Nudelholz in der rechten Hand brachte sie das junge Mädchen vor sich fast zum Weinen. „Ich bleibe jetzt so lange hier sitzen, bis die Brote braun und nicht mehr schwarz aus dem Ofen kommen“, hörte Inken sie sagen.
„Es war schier unmöglich für mich, ihren Ansprüchen zu genügen. Weißt du, Tante Tine, meine Gedanken waren zumeist nicht in der Küche bei der Hausarbeit, sondern am Strand beim Meer. Das hat mir Tante Rinelda natürlich sehr übel genommen. Sie konnte sich dann die wunderbarsten Strafen ausdenken.“
„Dein Vater hat zugelassen, dass sie dich schlägt?“ Entsetzt schlug Tante Tine eine Hand vor den Mund.
Inken verneinte. „Nicht doch. Sie hatte ganz andere Möglichkeiten, mir wehzutun. Verfehlungen in der Küche führtenzum Beispiel dazu, dass ich Garrelt nicht besuchen durfte. Oder aber sie ließ mich stundenlang Textstellen aus der Bibel auswendig lernen. Damals fand ich jedoch, dass sie selbst die größte Strafe war, die mir auferlegt wurde, und ich verstand Vater nicht. Aber heute sehe ich, dass Tante Rinelda auch ihr Gutes hatte.“
Inken lächelte in sich hinein. „Sie hat für mich gesorgt, wenn Vater auf Walfang war. Dank ihr bin ich Wildfang regelmäßig zur Schule gegangen. Und in welcher Kleidung wäre ich herumgelaufen, wenn Tante Rinelda nicht ein Auge darauf gehabt hätte. Ja, in gewisser Weise muss ich ihr dankbar sein. Aber andererseits hat sie mich auch viele Tränen gekostet. Für Tante Rinelda war ich wohl nur eine geballte
Weitere Kostenlose Bücher