Die Friesenrose
nickte betrübt. „Sie war wohl ganz anders, als ich es bin. Die Leute sagen, ich komme nach meiner Großmutter, die auch dieses lockige, rote Haar hatte.“ Inken wickelte eine Strähne um ihren Finger. „,Stur wie ein Esel‘, sagt Vater immer, wenn er von ihr spricht. ,Und ein Mundwerk wie ein Fischweib.‘“ Inken seufzte. „Für meinen Vater ist es sicher gut, kein Spiegelbild vor Augen zu haben, aber ich hätte gern mehr von der Lieblichkeit meiner Mutter gehabt. Vater hat sehr unter ihrem Tod gelitten und tut es immer noch.“
Tante Tine schien Inkens letzte Worte kaum wahrgenommen zu haben. Sie war tief in Gedanken versunken. Ihre Augen blickten in eine weite Ferne. „Deine Mutter war ein Kind der Insel, Inken. Sie liebte das Meer und den Strand, die Stürme und die Schreie der Möwen im Wind. Doch es waren die Menschen, denen ihre besondere Zuneigung galt. Ich habe das am eigenen Leibe erfahren. Sie hat mich immer vor den Insulanern in Schutz genommen. Auf der Insel hieltenmich alle für ein überängstliches Wesen. Das stimmte in gewisser Weise auch. Als Kind bin ich einmal bei einer Schiffsfahrt fast ertrunken. Seit dieser Zeit habe ich einen Heidenrespekt vor den Gewalten der Natur. Beständig saß mir die Angst vor dem Meer und seinem Tun im Nacken, und vielleicht war diese Urangst auch der Grund dafür, dass ich deinem Onkel so bereitwillig ins Moor gefolgt bin. Dabei waren all seine Beteuerungen nur leere Versprechen. Eggo hat niemals die Frau in mir gesehen, sondern nur die dumme Tine- Trine mit dem hohen Erbteil. Das hat er dann ganz schnell durchgebracht, und nur ein gütiges Schicksal hat ihm danach das goldene Kalb in Gestalt der Obererbpächter geschickt.“
Sie zuckte geringschätzig mit den Schultern. „Reden wir lieber nicht mehr von diesem Kerl.“ Sie nickte mit dem Kopf zum Schrankbett. „Eigentlich wollte ich dir ja von deiner Mutter erzählen. Sie war so offen und frei gegen jedermann, wie dein Vater verschlossen und eigenbrötlerisch war. Niemand konnte sich vorstellen, dass Hinderk sich einmal solch eine Frau suchen würde, er selbst am wenigsten. Doch als Amkes Vater vom Walfang nicht zurückkehrte, ergab es sich, dass er sie bei sich aufnahm. Amke brauchte Arbeit und Hinderk jemanden, der sich um ihn sorgte.
Tja, die Leute sagen, Amke hätte deinen Vater bezirzt und wie eine Sirene eingefangen. Aber ich glaube nicht, dass sie dies absichtlich tat. Es war die große Liebe zwischen den beiden, da bin ich mir ganz sicher. Hinderk soll sich zuerst dagegen gewehrt haben, denn schließlich wollte er niemals eine feste Beziehung eingehen. Dein Vater liebte seine Freiheit. Außerdem war er damals schon nicht mehr jung. Die Insulaner tuschelten hinter vorgehaltener Hand, dass es nicht gut gehen könne mit ihm und dem jungen Mädchen unter einem Dach. Sie sagten, er habe versucht,ihrer Nähe zu entkommen, und sei wie ein Besessener zur See gefahren. Doch die Liebe ist wohl stärker gewesen, und einen ganzen Sommer lang ging er nicht mehr auf Walfang. Im Herbst dann ließen die beiden einen Pfarrer kommen, einen, der sein Handwerk verstand, und wurden auch offiziell ein Paar. Ich war nicht dabei, denn schon damals hielt mich Eggo wie eine Gefangene. Davon habe ich deinem Vater natürlich nie erzählt. Was man nicht wahrhaben will, schiebt man gerne beiseite.“
Tante Tine sah Inken in die Augen, als wolle sie sie dafür um Verzeihung bitten. Dann fuhr sie fort. „Während dein Vater zur See fuhr, verwandelte deine Mutter den Garten des Hauses, der noch zu meiner Zeit von Disteln und Brennnesseln überwuchert war, in ein kleines Paradies. Ich habe ihn nie gesehen, aber Hinderk schrieb mir davon. Ganze Schiffsladungen Humus muss er vom Festland mitgebracht haben, damit Malven und Hortensien, Päonien und Lilien und auf dem Boden Kissen von Grasnelken und Anemonen zum Blühen gebracht werden konnten. Deine Mutter hat die Pflanzen jeden Tag eigenhändig mit Süßwasser aus den Regenwasserzisternen versorgt. Sie muss Blumen sehr geliebt haben, Inken. Dein Vater nannte sie seine Inselrose. Ach, Inken, wie gerne hätte ich mein Elternhaus von Amkes Blumen umrahmt gesehen.“
„Du wirst es sehen.“ Inken nahm die Hände ihrer Tante und streichelte sie sanft. „Die Blumen gibt es immer noch, obwohl Mutter schon so lange tot ist. Vater sorgt Jahr um Jahr dafür, dass es ihnen an nichts fehlt.“ Inken schloss die Augen und gab sich einen Augenblick ganz ihrem Heimweh hin. In der
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