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Die Friesenrose

Die Friesenrose

Titel: Die Friesenrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Oltmanns
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den Augen lag immer ein gewisser Ausdruck von Verschlagenheit.
    Jetzt wuchtete er seine Massen von der Bank hoch und donnerte mit der Hand gegen die Türen des Wandbettes, in dem Tante Tine lag. Sie hatte eine schlechte Nacht gehabt.Trotz mehrerer kühlender Tücher war es Inken kaum gelungen, das Fieber zu senken. Der Einzige, dem dies nicht zu schaffen machte, war ihr Mann.
    „Wach auf, Alte. Hast lange genug gefaulenzt. Sieh zu, dass du dir dein Gnadenbrot verdienst!“
    Worauf Tante Tine mit zittriger Hand die Holztüren des Verschlages aufstieß, nach dem Tau mit dem Holzgriff fasste, das von der Decke herunterhing, und sich daran hochzog. In ihren Augen stand die nackte Angst geschrieben.
    „Ist ja schon gut, ich komme, Eggo.“ Ächzend erhob sie sich von ihrem Lager, und der Husten setzte ein, kaum dass sie sich aufgerichtet hatte. Ein Anfall erschütterte ihren ganzen Körper, und Inken bebte vor Mitleid. Tante Tine war klein, ihre Arme und Beine so knochig und dünn wie die eines Kindes, und sie ging mit leicht gebeugtem Rücken. Das graue Leinenkleid schlotterte um ihren Körper und ließ erkennen, wie es um die Gesundheit der älteren Frau bestellt war. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen und blickten leidvoll aus dem Gesicht. Das Haar trug sie zu einem kleinen runden Knoten am Hinterkopf festgesteckt.
    „Lange machst du’s nicht mehr.“ Mitleidlos musterte der Alte seine Frau. „Ist auch besser so. Ist ja eh nichts mehr los mit dir.“
    Inken schauderte es. Sie führte ihre zitternde Tante zur Bank. „Ich wünsche dir, dass du nur einmal ihre Schmerzen leiden musst“, schleuderte sie ihrem Onkel hasserfüllt entgegen.
    „Was maßt du dir an?“ Mit wutverzerrtem Gesicht holte der grobschlächtige Mann aus und schlug Inken mitten ins Gesicht. „Undankbare Bettlerin! Wo wärst du denn heute, wenn ich dich nicht aufgenommen hätte, hä? Hättest dich mit Huren zusammengetan. Wage es noch einmal, den Mund aufzumachen,und ich schlag dich tot, oder aber“ – er maß sie mit einem berechnenden Blick –, „oder aber ich rede mal mit unseren französischen Freunden. Vielleicht springt dabei ja noch etwas für mich heraus.“
    „Halt ein, Eggo! Sie meint es nicht so, nicht wahr, Inken?“ Tante Tines Stimme bebte, und ihr Weinen wurde erneut von schwerem Husten unterbrochen. Gelblichgrüner Schleim und Blut auf dem Leinentuch brachten Inken dazu, ihre vorlaute Zunge zu verfluchen. Sie versuchte verzweifelt, Tante Tine zu beruhigen. Ihr Onkel verschwand derweil ungerührt in die Schlafnische, und schon bald darauf hörten sie sein Schnarchen.
    „Kind, du kannst nicht länger hierbleiben. Es wird immer schlimmer mit ihm.“ Sanft streichelte die alte Frau Inkens Arm.
    „Ich muss aber hierbleiben. Wohin soll ich denn sonst? Du weißt, die Franzosen suchen mich“, beruhigte Inken ihre Tante, der sie den wahren Grund für ihr Bleiben nicht nennen wollte. Sie legte ihre Hände um das Gesicht der Älteren. „Wenn die Franzosen endlich fort sind, Tantchen, dann werde ich dich von hier wegbringen. Vater kommt wieder frei, und wir können gemeinsam auf Borkum leben – ohne ihn.“ Mit dem Kopf nickte sie in Richtung des Wandbettes.
    „Borkum.“ Ein verträumter Ausdruck schlich sich auf das Gesicht der älteren Frau.
    „Wie weit fort die Insel zu sein scheint und wie weit die Zeit zurückliegt, als wir alle noch jung waren. Gut, dass man nicht weiß, was einem das Leben bringt. Ich wäre sonst schon in jungen Jahren verzweifelt!“ Tante Tines Stimme klang brüchig, und sie ließ wie eine vertrocknete Blume den Kopf hängen.
    Inken setzte sich neben die alte Frau auf einen Stuhl undlegte ihr einen Arm um die Schulter. „Denk nicht an die schlechten Zeiten. Erzähle mir lieber von meiner Mutter. Vater ist meinen Fragen immer ausgewichen. Und als Mutter starb, war ich noch zu klein, um mich zu erinnern. Manchmal, zumeist unerwartet, lassen Düfte oder Klänge jedoch Bilder in mir aufsteigen. Dann glaube ich zu wissen, dass sie eine sehr schöne Frau war und mich geliebt hat.“
    „Deine Mutter.“ Tante Tine seufzte, und ein verklärter Ausdruck legte sich auf ihre Züge. „Ihr Name war Amke, aber das weißt du ja. Sie ist mir allezeit wie ein Engel vorgekommen. Dieses lange, helle Haar, und die Haut so fein und fast durchscheinend. Sanft und nachgiebig war Amke gegen jedermann und doch taten alle das, was sie wünschte. Deine Mutter war ein ganz besonderer Mensch, Inken.“
    „Ich weiß.“ Inken

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