Die Friesenrose
Zuerst ging es sehr langsam. Deine Eltern klammerten sich aneinander wie Kinder, und wieder fuhr dein Vater nicht zur See. Zu dieser Zeit war es auch, dass es mir gelang, mich heimlich mit den beidenin Emden zu treffen. Hinderk und Amke hatten einen Arzt aufgesucht, der jedoch nicht helfen konnte. Sie hatten dich mitgenommen, und du lagst in einem Körbchen. Ich weiß noch, wie ich Amke beneidet habe. Ich habe Eggo ja als alte Jungfer geheiratet, und ans Kinderkriegen war in unserem Fall nicht mehr zu denken. Wie gesagt, ich habe deine Eltern beneidet um dich und um ihre Liebe. Doch dann, als ich Amke zum Abschied in die Arme nahm, da schämte ich mich. Denn sie war nur mehr ein Schatten ihrer selbst, eine Handvoll Mensch. Amke hat nie über ihre Krankheit gesprochen oder geklagt. Doch als ihr jeder Handschlag zu viel wurde und sie dich in die Obhut einer Verwandten geben musste, da ließ sich nicht länger übersehen, dass sie des Todes war. Und selbst zu ihrer Beerdigung ließ mich Eggo nicht ziehen.“ Tante Tine begann leise zu weinen, und auch Inken liefen Tränen über die Wangen. Sie lehnte ihren Kopf gegen das Holz. Wellen des Schmerzes schlugen über ihr zusammen, und sie schloss die Augen. Wie sie ihre Mutter vermisste! Diesen Menschen, den sie nie gekannt hatte, nie hatte kennenlernen können. All die Jahre war es so gewesen. Welch ein Verlust. Und allezeit war da das Gefühl, nicht vollständig zu sein. Als ob einem ein Teil seines Selbst fehlte. Und sie wusste, dass es ihrem Vater genauso ging.
„Hinderk wurde nach ihrem Tod niemals wieder richtig froh“, sagte Tante Tine, als habe sie ihre Gedanken gelesen.
„Er war mir immer ein guter Vater, aber den Kameraden fand ich eher in Garrelt. Du kennst ihn ja.“
Tante Tine nickte. „Hat das Herz auf dem rechten Fleck, dieser Mann. Ihn hätte ich nehmen sollen anstatt den Kerl dort im Bett.“ Für einen Augenblick nahmen sie die Schnarchgeräusche hinter den Türen des Wandbettes wieder stärker wahr. „War aber leider einige Jährchen zu jung fürmich. Mit Garrelt konnte man Spaß haben, und wenn die Mundharmonika aufspielte, dann schwang er einen wie eine Feder über die Holzplanken.“ Tante Tine schloss verträumt die Augen.
Inken lächelte beim Gedanken an den Fischer. „Ich war für ihn wohl so eine Art Ersatztochter, ein Stück weit Familie, die er nicht hatte. Und für mich war er der Freund schlechthin. Wir tollten wie junge Welpen lachend über die Insel. Er lehrte mich das Meer beobachten, bis ich das Wetter deuten konnte und Stürme heraufziehen sah.“ Inken schloss für einen Moment die Augen und erinnerte sich plötzlich mit jeder Faser ihres Herzens an diese unbeschwerten Tage zurück. Borkum, mit seinem Strand voller Abenteuer, mit glutroten Sonnenuntergängen und den Fischerkaten, von denen jede ein anderes Schicksal barg. Die Insel war ihre Heimat und das Haus ihres Vaters allezeit ein Zufluchtsort gewesen. Allezeit, bis die Franzosen gekommen waren. Und nun saß sie hier inmitten dieses gottverdammten Moores und war der Gewalt ihres Onkels ausgesetzt.
Inken drehte ihr Gesicht zur Seite, damit Tante Tine den verbitterten Ausdruck, der darin lag, nicht wahrnahm und sich wieder Vorwürfe machte. Sie musste den Gedanken an die Insel, an ihr Zuhause verdrängen, damit sich die Realität nicht gar zu grausam ausnahm. Doch auch Tante Tine schien in Gedanken immer noch auf der Insel zu sein.
„Borkum, wenn ich doch nur noch einmal dort sein könnte.“ Sie seufzte und ergriff Inkens Hand. „Einmal noch das Meer sehen und die Wellen rauschen hören. Aber ich bin schon zu alt. Meine Zeit ist bald zu Ende, und ich hoffe, die Zeit der Franzosen auch – damit du fortkannst. Man sagt, sie ziehen erneut Ostfriesen zum Wehrdienst ein. Vielleicht wird das die Menschen endlich wachrütteln. Und wenn nicht dieMänner, dann doch wenigstens die Frauen. Sie werden nicht noch mehr ihrer Söhne für Napoleon in den Krieg ziehen lassen.“
Inken schüttelte müde den Kopf. „Die Frauen werden nicht viel ausrichten können. Bei der letzten Aushebung in Leer haben sich die wehrpflichtigen Männer geschlossen geweigert, für Frankreich zu kämpfen. Doch du weißt, eine schwer bewaffnete Kompanie Soldaten hat sie schnell eines Besseren belehrt, und die Männer wurden gezwungen, das Los zu ziehen. Und denk daran, wie es den Schiffern und Seeleuten aus dem Bezirk Timmel ging. Auch sie wurden zur Musterung befohlen und wollten sich nicht dem
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