Die Friesenrose
Ladung Widerstand. Sogar meine wilde rote Mähne widersetzte sich all ihren Bändigungsversuchen. Gleichgültig, wie oft Tante Rinelda zur Bürste griff, aus den Flechten lösten sich immer einzelne Strähnen. Das Zusammensein mit Garrelt fand ebenso wenig ihre Zustimmung wie die Tatsache, dass ich mit den anderen Inselkindern nichts anfangen konnte. Weder mochte ich mit den Mädchen und ihren Puppen spielen noch mit den Jungen und ihren Holzbooten. Mir reichte die gemeinsame Zeit mit den Inselkindern in der Schule.
Dreimal in der Woche kam ein Lehrer vom Festland herüber und unterrichtete uns. In der Schule kam ich gut zurecht. Der Lehrer hielt mich wohl für klug, doch die Insulaner gaben meinem Vater den Ratschlag, meinen wachen Verstand zu dämpfen. Es sei nicht gut, wenn Mädchen zu viel wüssten und zu neugierig wären. Gott sei Dank scherten weder mein Vater noch ich uns um diese Frage. Mir war es nur recht, dass mir die Schule ein Leichtes war. Sobald ich die Schulaufgaben und die Hausarbeit erledigt hatte, trieb es mich an den Strand. Ich verbrachte vieleStunden im Freien und war wild und ungestüm wie das Meer. Zerrissene Röcke und nicht vorhandene Schuhe, nasse Kleidung und verfilzte Haare machten mir nichts aus. Tante Rinelda aber sehr wohl. Sie war der Ansicht, mein Vater ließe mich verwildern. Mir gefiel das unstete Leben mit Vater jedoch weitaus besser als die Tage in der Obhut meiner Tante. Doch auch sie gingen vorbei.
Wenn Vater da war, verbrachten wir oft die langen hellen Abende mit Garrelt, dem Fischer. Wir tranken zusammen Tee, und die beiden Männer vertrieben mir die Zeit mit Seemannsgarn. Die Insulaner hatten wohl Mitleid mit mir, dem Mädchen ohne Mutter, fanden mich aber auch seltsam. Und als seltsam erachteten sie auch Vaters Erziehungsmethoden. Hinter vorgehaltener Hand hörte ich sie sagen, dass sich kein halbwegs anständiger Mann jemals für mich interessieren und es ein böses Ende mit mir nehmen würde.“ Bei diesen Worten stand Inken plötzlich, wie von unsichtbarer Hand herbeigezaubert, Cirks Bild vor Augen. Sie vermeinte seinen streichelnden Blick erneut über ihren Körper gleiten zu fühlen und verspürte eine seltsame Sehnsucht. Mit einer energischen Handbewegung verscheuchte sie das Trugbild wieder.
„Es gab eigentlich außer Vater und Garrelt keinen Menschen, der mir nahestand. Es mag sein, dass ich manchmal einsam war, aber dieses Gefühl konnte ich nicht in Worte fassen. Doch eigentlich hatte ich eine schöne Kindheit, und das trotz Tante Rinelda. Vielleicht tue ich ihr auch Unrecht. Wer weiß, welche Träume sie nach dem Tod meiner Mutter gehegt hat, die sich nicht erfüllt haben. Und dann die schwere Aufgabe, das unbändige Kind, das ich war, zu erziehen. So manchen Tag wird sie verzweifelt gewesen sein. Und das Maß war voll, als Vater dann eines Tages anfing, mir das Schießen beizubringen.Tante Rinelda stellte ihn vor die Wahl: sie oder die Schießübungen. Doch Vater ließ sich von niemandem etwas sagen, und so verließ uns Tante Rinelda. Sie suchte sich eine, wie sie sagte, dankbarere Aufgabe an Land. Ich war damals vierzehn Jahre alt.“
Mit einem kleinen wehmütigen Lächeln stützte Inken die Ellenbogen auf den Tisch. Für einen Moment überkam sie die glasklare Erkenntnis, dass die Jahre mit Tante Rinelda denen hier im Moor, in denen es keine Freiheit für sie gab, glichen. Inken blickte aus dem Fenster, sah aber im Geiste das Meer und seine Weite vor sich. Und ganz leise schlich sich der unbändige Wunsch nach Freiheit in ihr Herz. Sie wollte, sie musste fort von hier, sonst würde sie noch ersticken. Das Gefühl war so übermächtig, dass es fast wehtat.
Als Tante Tine zu sprechen begann, musste Inken sich zwingen, zuzuhören. Doch schon bei den ersten Worten richtete sie sich hellwach auf. „Ich habe dich einmal als Säugling gesehen, Inken. Du warst der ganze Stolz deiner Eltern. Und die roten Haare hattest du damals schon. Deine Mutter hat gelacht, als mir das Wort ,Rotfüchsin‘ entschlüpfte. Sie hat den Kopf geschüttelt und dich ,Goldkind‘ genannt.“ Tante Tine lächelte glücklich, sie schwelgte sichtbar in ihrer Erinnerung.
„Wann und wo hast du meine Mutter getroffen?“ Inken saugte Tante Tines Worte förmlich in sich auf.
„Das war in Emden. Da merkte man schon, dass es ihr nicht gut ging. Nein, wirklich nicht. Die arme Amke.“ Sie senkte den Kopf. „Diese verdammte Krankheit! Sie war wie ein Tier, das deine Mutter holen kam.
Weitere Kostenlose Bücher