Die Friesenrose
Gedanken bei dir sein.“ Inken zitterte leicht. Unbewusst streckte sie eine Hand aus und berührte sein Gesicht. Strich über seine Wange und spürte die rauen Stoppeln, aber auch seine zarte Haut. Dann ließ sie abrupt ihre Hand sinken. Sie fiel ins Bodenlose.
Cirk drehte sich um und ging. Er schaute nicht zurück. Auf seinem Gesicht spürte er noch die Berührung ihrer Hand. Das musste für lange Zeit genügen.
5. Abschiede
Sommer/Herbst 1813
Bittbrief zur Freilassung verschleppter Seeleute an den französischen Präfekten in Aurich:
„Wir Unterzeichneten bezeugen hierdurch, dass die Vorzeigerin ... eine mit von den bedürftigsten Weibern dieses Fehnes ist, von welchem die Männer entführet sind .
Erstlich ist diese Frau im verwichenen Frühjahr mit vier noch sehr kleinen Kindern alleine geblieben .. .
Da nun die Frau sich und ihre Kinder mit Unterhalt versorgen muss ... haben sie auch keinen Mist mehr für ihr Land kaufen können und daher im verwichenen Sommer fast keine Früchte erhalten .
Auch können, wenn alle ihre Güter jetzt verkauft würden, bei weitem ihre Schulden davon nicht bezahlt werden .
Dass dieses die gründliche Wahrheit ist, bezeugen wir mit der Unterschrift unseres Namens
Felde Theyen Bauman, Schullehrer
I. A. Holtz, Pastor
Jan Arljets
Der Krug zerbricht
Vorsichtig betastete Inken die roten Striemen am Körper ihrer Tante. Diese stöhnte, während ihre Nichte eine lindernde Salbe auf die Wunden auftrug. Gestern hatte Inken wieder einmal Onkel Eggos Unwillen erregt, und in jäh aufflammendem Zorn hatte er seine Wut an Tante Tine ausgelassen. Diesmal war ihm ein Reisigbesen gerade recht gekommen.
„Kind.“ Tante Tine scheuchte sie fort. „Lass gut sein. Ich werde mich ein wenig hinlegen und ausruhen. Ich fühle mich heute so erschöpft. Zieh du dir schnell das Kleid über, sonst wird Eggo wieder wütend. Die Herren Kontrolleure warten nicht gerne.“
Nur ungern ließ Inken ihre Tante alleine, denn deren Husten war in den letzten Tagen schlimmer geworden, und die alte Jebbedine, Arztersatz für die Moorkolonisten, hatte bedenklich den Kopf geschüttelt.
„Schwindsucht“, hatte ihre klare Stimme nüchtern das Urteil gefällt. „Hätte besser ihren Mann treffen sollen. Wird noch schlimmer werden, jetzt, da der Herbst kommt, und ich weiß nicht, ob sie den Winter übersteht. Aber vielleicht ist da oben“ – sie hatte zum Himmel gedeutet – „nicht so ein Jammertal wie hier unten. Weißt du, Mädchen, eigentlich müsste Tine fort von hier.“ Sie war nahe an Inken herangetreten. „Die Krankheit ist ansteckend. Aber deine Tante hält sich ja seit Jahren eh nur in diesen vier Wänden auf. Du bist jung und kräftig, da sucht sich die Schwindsucht lieber andere Opfer. Mit ein bisschen Glück wird es Eggo doch noch erwischen.“ Ein freudloses Lachen war über ihre Lippen gekommen. An der Tür hatte sie sich noch einmal umgedreht. „Viel Sonne, Inken. Gönne ihr die letzten schönen Sonnentage dieses Jahres. Mehr kannst du nicht tun.“
Inken nahm sich zusammen und eilte in die Abstellkammer, wo ihr Bett stand. Jeden Augenblick konnten die Obererbpächter ankommen, und bis dahin musste sie einigermaßen präsentabel aussehen. Inken griff nach ihrem einzigen guten Kleid, und wehmütig strichen ihre Hände über den weichen Stoff. Es war ein Geschenk ihres Vaters, und sie sah noch immer sein strahlendes Gesicht vor sich, als er sie damit überrascht hatte.
Mit einem Seufzer zog sie es über die abgetragene Unterwäsche. Der blaue Leinenstoff spannte sich eng über ihre Brust, und der tiefe runde Ausschnitt wirkte gewagt. Aber Inken hatte keine andere Wahl. Es würde so gehen müssen. Ihr gewaschenes Haar glänzte, und Inken fuhr genussvoll mit der Bürste hindurch. Endlich durfte sie es wieder einmal offen tragen.
„Vaters ganzer Stolz“, dachte Inken. Wie oft hatte er ihr liebevoll Zöpfe geflochten und dabei von ihrer Großmutter erzählt. „Das gleiche Haar und ganz das gleiche unbezähmbare Wesen“, waren seine Worte gewesen. Worte, die nicht hierher zu gehören schienen. Inken war, als sei ihre Unbezähmbarkeit verloren gegangen. Doch dann straffte sie die Schultern. Nein, so war es nicht! Onkel Eggo hatte sie nicht gezähmt, er nutzte nur ihre Liebe zu Tante Tine aus – und das war ein Unterschied.
Ein Fluchen riss Inken aus ihren Gedanken. Schnell legte sie die Bürste zur Seite und eilte in die Küche. Onkel Eggo betrat hustend und keuchend das Haus, und
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