Die Friesenrose
erfahren, doch das Leid auf seinem Gesicht hielt sie zurück. Sie sah die tiefen Furchen auf seiner Stirn und wünschte, sie mit ihren Fingerspitzen fortstreichen zu können. Aber ihr Wunsch ging nicht über den Gedanken hinaus. Ihn in die Tat umzusetzen war zu gefährlich. Sie hatte diesen neuen Cirk gerade erst kennen gelernt, und sie musste sich erst noch an die Vorstellung gewöhnen,dass er ein anderer war als der, dem sie in Emden begegnet war.
„Cirk ...“ Sie maß ihn mit einem weichen Blick. „Wir alle müssen unseren eigenen Weg finden. Wir müssen ein Zuhause finden, bei Menschen, die uns lieben. Und dieses Zuhause gibt es für jeden von uns. Daran glaube ich!“
„Dann sei du mein Zuhause.“ Cirk umklammerte ihre Schultern. „Bisher fühlte ich mich nur auf dem Meer geborgen. Sag mir, was ich tun muss, damit ich Heimat bei dir finde, und ich tue es!“ Verzweiflung lag in seinem Blick. Cirk wirkte wie ein Seemann, der unbekanntes Gewässer befuhr und nicht wusste, wohin er sein Schiff steuern sollte.
„Dein Leben gehört dir, und du musst deinen Hafen selber finden“, sagte Inken leise und löste sich von ihm.
„Nein, in dir habe ich etwas gefunden, das ich nicht mehr missen möchte. Das ist das Einzige, was ich weiß. Mein Leben gehört dir!“
Inken war unfähig, darauf zu antworten. Instinktiv wusste sie, dass diese Worte wahr waren, dass sie tief aus einem Teil seines Selbst kamen, das sie zuvor nicht gekannt hatte. Das er vielleicht selbst nicht gekannt hatte.
„Ich kann das nicht annehmen“, sagte sie fest. „Niemand kann das Leben eines anderen annehmen. Es gehört allein ihm selbst. Ich ...“ Sie zögerte, doch dann schüttelte sie ihre Bedenken ab wie Regentropfen. „Ich bin frei, und ich werde auf dich warten, Cirk. Dies ist das einzige Versprechen, das ich dir geben kann.“
Cirk hob den Kopf. Inkens Worte hatten eine Spannung zwischen ihnen aufgebaut, der sie sich beide nicht entziehen konnten. Weder das leichte Knacken des Holzes noch das Rauschen des Windes drangen in ihr Bewusstsein. Es war, als ob sich ein Vorhang zwischen sie und die Welt geschobenhätte. Ein Vorhang, hinter dem sie sich Stück für Stück aufeinander zubewegten. Als Cirk nur mehr eine Haaresbreite von ihr entfernt war, spürte Inken, wie ihre Augen sich fanden, und sie vergaß den Krieg, die Vernunft, einfach alles um sich herum.
„Ja“, flüsterte Inken, ohne zu wissen, worum sie bat.
Doch als Cirk sich daraufhin zu ihr hinabbeugte, um sie zu küssen, kam Inken wieder zu sich. Mit einer schnellen Bewegung wandte sie sich von ihm ab, und die Spannung zwischen ihnen löste sich wie ein Wolkenschleier in der Sonne auf.
„Nein! Küss mich nicht, Cirk. Denn dann könnte ich dich nicht mehr einfach so gehen lassen.“ Ihre Stimme klang flehend.
Cirk tat einen tiefen Atemzug und blickte Inken lange an. Schließlich trat ein Lächeln auf sein Gesicht. „Keine Sorge! Ich küsse dich nicht. Aber wenn wir uns wiedersehen, wird mich nichts mehr davon abhalten.“
„Darauf freue ich mich jetzt schon.“ Sie lächelte zurück.
Cirk wies mit einer Hand auf eine der Kirchenbänke und sie ließen sich darauf nieder. Eine Weile saßen beide still nebeneinander. Doch dann begann Cirk unaufgefordert von seinen Reisen zu erzählen, von seinen Wünschen und Träumen, von dem, was er mochte und hasste, und von seinen Gefühlen auf See. Nur seine Vergangenheit sparte er aus. Inken hörte zu, fragte nach und sog alles in sich auf. Dann berichtete sie ihm ihrerseits von ihrer Kindheit auf Borkum, ihrem Vater, den Tagen am Meer und dem Alleinsein mit den Wellen. Sie vertrauten sich in dieser kurzen Zeit mehr an als andere Menschen manchmal in Jahren. Und als die Morgendämmerung heraufzog, war es Inken, als würde sie den Mann an ihrer Seite schon lange kennen. Mehr und mehr gefiel ihr sein Wesen, das so viele verschiedene Facetten aufwies. Mehrund mehr vertraute sie ihm. Und doch war da immer noch eine letzte Unsicherheit. Konnte es wirklich sein, dass er sich in sie verliebt hatte? Konnte man sich seiner Gefühle nach so kurzer Zeit sicher sein? Und doch: Cirk war hier bei ihr im Moor. Das alleine zählte.
Als es Zeit war, Abschied zu nehmen, ergriff Cirk Inkens Hände. „Bring du deine Aufgabe hier im Moor zu Ende, und ich werde das meine dazutun, dass der Krieg endlich vorbei ist. Und wenn wir beide frei sind von alldem, werden wir gemeinsam einen neuen Anfang wagen.“
„Ich ... ich werde jeden Tag in
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