Die Friesenrose
Nachbarn, die kamen, und sie war auch diejenige, die Inken in ihre Arme nahm.
„Gräme dich nicht zu sehr, mein Kind. Du warst der Trost ihrer letzten Jahre. Sie hat nun all ihre Leiden überstanden. Und wenn es etwas gibt, was Tine sich mehr als alles andere gewünscht hat, dann ist es, dass du fortgehen kannst von hier.“ Jebbedine neigte flüsternd den Kopf. „Die Tage der Franzosen sind gezählt. Der Obererbpächter sagte vorhin, Österreich, England und Schweden hätten sich dem preußischrussischen Bündnis gegen Napoleon angeschlossen. Sie werden uns bald befreien, glaub mir, ich spür’s in meinen alten Knochen.“
Doch Inken schüttelte nur müde den Kopf. Ihr waren die Regierungsverhältnisse egal. Ihr war alles egal! Sie konnte an nichts anderes mehr denken, als dass Tante Tine tot war.
Jebbedine schloss, wie es üblich für ein Trauerhaus war, die Fensterläden zur Hälfte. Andere Nachbarn begannen, das für die Trauerversammlung bestimmte Zimmer auszuräumen, die Spiegel zu verhängen und die Uhren anzuhalten.
Während der Pastor kam und der Leichenbitter, der den Todesfall bekannt gibt, sich auf den Weg machte, trank OnkelEggo ungerührt weiter. Unter zusammengekniffenen Augen beobachtete er scheinbar gleichgültig das Treiben um sich herum. Inken fragte sich, was in seinem Kopf wohl vorgehen mochte. Bisweilen maß er sie mit einem berechnenden Blick, und die Gier in seinen Augen erschreckte sie.
Keiner der Nachbarn sprach mit Inkens Onkel, niemand drückte seine Trauer ihm gegenüber aus. Sie kannten ihn genau und hatten nur Verachtung für ihn übrig. Die Obererbpächter hatten fast fluchtartig das Haus verlassen.
Jebbedine schickte Inken nach draußen. „Wir wollen Tine ein wenig herrichten. Dazu braucht es dich nicht, mein Kind. Oder möchtest du, dass eine von uns mit dir geht?“
Inken schüttelte den Kopf. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihren Gedanken für sich zu sein. Eine eigenartige Gefühllosigkeit machte sich in ihr breit, legte sich wie ein Panzer um ihr Herz. Nichts schien sie mehr zu berühren, nicht einmal die letzten Sonnenstrahlen. Es war ihr, als könne nichts und niemand sie jemals wieder verletzen, als könne sie aber auch niemals wieder jemanden lieben. Nicht einmal der Gedanke an Cirk brachte Licht ins Dunkel ihrer Seele. Wie eine Schlafwandlerin lief Inken lange Zeit am Kanal entlang, kehrte dann zurück und betrat den Pferdestall. Sie wollte alleine sein mit sich und ihrer Trauer. Tief ausatmend sank sie ins Stroh.
Inken wusste nicht, wie lange sie so bewegungslos verharrt hatte, doch plötzlich war ihr, als würde sie jemand beobachten. Inken drehte den Kopf und sah ihren Onkel reglos im Türrahmen stehen. Sein Blick durchbrach ihre Gefühllosigkeit. Etwas Lüsternes, Berechnendes lag darin, und Inken spürte Angst in sich aufsteigen, die Urangst des Gejagten vor dem Jäger. Der Blick ihres Onkels versetzte sie in eine größere Furcht, als all seine derben Worte es je vermocht hatten.Sie sprang auf und rannte zur Tür. Doch mit einer langsamen, fast genüsslichen Bewegung schob ihr Onkel den Riegel vor. Dann torkelte er auf Inken zu.
„Was soll das? Lass mich hier raus!“ Sie hörte die Panik in ihren Worten.
„Leg dich ruhig wieder ins Stroh, dort ist es genau richtig!“
Inken versuchte den Riegel zurückzuschieben. Flucht war das Einzige, woran sie denken konnte. Nur weg von hier, weg von ihm. Inken schrie aus Leibeskräften.
„Das kannst du dir sparen.“ Ihr Onkel riss sie am Haar zurück. „Sie sind alle fort. Im Haus liegt nur noch Tine, und die wird dir kaum helfen können. Wir beide haben uns jetzt, nach all der Aufregung, ein bisschen Spaß verdient.“
Seine Hände packten ihre Schultern und zogen ihren widerstrebenden Körper an sich heran. Brutal presste er den Mund auf ihre Lippen. Inken glaubte ersticken zu müssen. Zuerst verspürte sie nur Übelkeit, doch dann stieg Wut in ihr auf, eine unbändige Wut! Sie schlug mit den Fäusten auf ihren Peiniger ein, und als er für einen Augenblick ihren Mund freigab, schrie sie erneut aus Leibeskräften. Mit aller Kraft versuchte sie, sich loszureißen. Als er ihr wieder den Mund verschloss, nahm Inken die Unterlippe ihres Onkels zwischen die Zähne und biss zu. Gleichzeitig fuhr sie ihm mit den Fingernägeln schmerzhaft über das ganze Gesicht. Sie biss zu, fester und immer fester, bis der Griff des Mannes sich lockerte. Inken öffnete ihren Mund erst, als es ihr gelang, ihm das
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