Die Friesenrose
Spur durch das dunkle morastige Wasser zog und wie auf einem verwunschenen Strom durch das Grün glitt, sogen sich ihre Augen an den bunten Farben fest. Nach so langer Zeit im Moor hatte sie fast vergessen, wie verschwenderisch die Natur sein konnte. Mit einer unbekümmerten Leichtigkeit war hier, in Küstennähe, alles gezeichnet. Die warme Luft streichelte ihr Gesicht, und es roch nach Sommer und Leben. Selbst die Bauernhäuser aus rotem Stein wirkten wie malerische Farbtupfer.
Wie anders war es dagegen im Moor. Verwitterte Hütten aus behauenen Baumstämmen, deren Spalten mit Lehm verschmiert waren, säumten dort den Kanal. Die Dächer bestanden aus Grassoden oder Reet. Nichts war üppig oder verschwenderisch. Das Moor hatte sein eigenes Gesicht. An einigen Tagen wirkte es liebenswert und friedlich, doch im Grunde war es wild und grausam, aber das hatte Inken immer gewusst.Im Moor war die Einsamkeit zu Hause, und für einen Augenblick überfiel sie die Angst, die abgrundtiefe Einsamkeit, die dort herrschte, niemals wieder abschütteln zu können.
Dann aber wandte sie ihr Gesicht entschlossen der Sonne zu, denn die Zeiten der Einsamkeit lagen hinter ihr!
Das Rauschen des voll beladenen Torfkahns mutete Inken wie ein wunderschöner Gesang an. Das Holz knarrte in der Besegelung, und glucksend floss vorne am Bug das Wasser ab. Der Schiffer saß an der Ruderpinne und nickte ihr freundlich zu. Sie waren auf dem Weg nach Emden. Das Torfschiff lag tief im Wasser, und die Ladung war rundum sorgfältig geschichtet, damit während der Fahrt nichts ins Rutschen kam. Der Fahrtwind war günstig, und der Schiffer hatte Stagfock und Segel gesetzt.
Vor ihnen auf dem Fehntjer Tief zogen, in einer langen Reihe, weitere Binnenfahrer dahin, gedrungene schwarze Kähne mit großem Laderaum. Beinahe schwerelos glitten sie mit ihren braunen Segeln durch das flache Land.
Ein verträumter Ausdruck lag auf Inkens Gesicht, der den Schiffer lächeln ließ.
„Es ist nicht immer so, Mädchen. Bei Windstille oder Gegenwind müssen wir treideln. Dann legt sich der da“ – sein Kopf wies in Richtung des Schiffsjungen – „ins Geschirr und zieht von Land aus, während ich selbst das Schiff mit einer langen Holzstange lenke, denn es darf auf keinen Fall an die Böschung stoßen. Das ist Pferdearbeit, kann ich dir sagen. Und dann verflucht man die gewichtige Torf- oder Schlickladung an Bord, egal wie fruchtbar sie auch ist.“
Er griff nach seiner Pfeife und stopfte sie, während seine Hand mühelos das Schiff lenkte.
„Bald haben wir es geschafft.“ Sein Blick streifte sie neugierig.„Grete sagte, ich solle dich beim Seewolf absetzen.“ Ein fragender Tonfall lag in seinen Worten.
„Richtig. Einige Tage werde ich dort bleiben und dann – mal sehen.“ Inkens ausweichende Antwort schien dem Schiffer zu genügen.
Während das Torfschiff gemächlich seine Bahn zog, wurde Inken von schweren Sorgen geplagt. Wie mochte die Lage in Emden sein? Es hieß, die Franzosen seien so gut wie besiegt. Napoleon zöge alle französischen Soldaten zum Heerdienst ein, und Ostfriesland habe sich nun wieder selbst in der Hand. Wenn etwas Wahres daran war, würde sicher nicht mehr nach einer rothaarigen Borkumerin gesucht werden, und sie konnte wieder unverkleidet durch die Stadt laufen. Inken seufzte. „Morgen werde ich Tjalda aufsuchen. Denn wenn die Franzosen wirklich geschlagen werden, erfährt sie eher von deren Niederlage als die Besiegten selbst“, dachte sie.
In Inkens Innerem breitete sich ein Gefühl von Wärme aus. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit Tjalda.
Die sanften Bewegungen des Torfkahns lullten sie ein. Und in diesem Zustand zufriedener Mattigkeit gestand sie sich ein, dass es eigentlich Cirk war, auf den sie sich am meisten freute.
6. Begegnungen
Emden, Herbst 1813
An die Bewohner von Ostfriesland
Im Namen des Königs von Preußen, ... bin ich mit den unter mir stehenden Truppen gekommen, Besitz von Ostfriesland zu nehmen; eures Eides und aller Verpflichtungen gegen die französische Regierung seid ihr hiermit entbunden. Ihr kehrt, von diesem Augenblick an, in das Verhältnis preußischer Untertanen zurück .
(Karl Friedrich Friccius, Kommandeur des 1. ostfriesischen Landwehr-Bataillons)
Sumi
Es war früh am Morgen, und die beiden Frauen saßen beim Frühstück. Ein feines Lächeln umspielte Inkens Lippen, während sie Tjaldas Redefluss lauschte. Mit gestenreichen Bewegungen schilderte diese, wie sich einer der
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