Die Friesenrose
Fassade ließ Inken einen Moment innehalten. Gegenüber verband eine Brücke die Ufer eines kanalisierten Flussarms, der es den Kaufleuten ermöglichte, Schiffe innerhalb der Stadt zu entund zu beladen.
Fast genüsslich holten ihre Füße wieder aus. Wie würzig und frisch die Luft schmeckte! Noch ließ der kühle Wind, der vom Hafen her kam, sie frösteln, doch bald schon würde die Sonne die Luft erwärmen. Welche Erleichterung und welche Wohltat es doch war, sich nicht mehr ständig furchtsam umsehen und verstecken zu müssen, nach so langer Zeit alles wieder ganz bewusst wahrnehmen zu können. Die Menschen, die Häuser, selbst die Spatzen, die sich um Brotkrumen balgten und schließlich tschilpend auf und davonflogen.
Inkens Blick streifte den Hafen mit den haushohen, schwankenden Schiffsmasten. Gespenstisch wirkten sie, jetzt, da die Sonne noch nicht hoch genug stand, um den grauweißen Dunst, der wie ein weißes Tuch über dem Hafen hing, hinwegzubrennen.
Wie von selbst fanden ihre Füße den Weg zum Marktplatz mit seinen vielen Buden und Ständen. Hier wurden alle erdenklichen Arten von Waren verkauft, und selbst jetzt, am frühen Morgen, ging es zu wie in einem Bienenstock.
Inken blieb stehen und sog das Gemisch unterschiedlichster Düfte ein. Am liebsten hätte sie den ganzen Marktplatz umarmt! Welch ein Gefühl von Freiheit, nach so vielen Jahren des Eingesperrtseins im Moor und der Angst vor Entdeckung. Erst jetzt konnte sie ermessen, was Freiheit überhaupt bedeutete, welch ein Geschenk sie war. Das kostbarste Gut an und für sich! Wie sehr es ihre Seele in all der Zeit nach ihr verlangt hatte. Wie schwer das Träumen geworden war, nachdem sich alles, was ihr sicher erschienenwar, gewandelt hatte. Dazu die übergroße Angst, für immer gefangen zu sein.
Aber es war anders gekommen! Es gab ein Leben nach dem Moor, und seine Verwandlung hatte schon begonnen! Inken erkannte in diesem Augenblick, dass jede ausweglose Situation auch einen neuen Anfang in sich barg, und ihre Angst vor der Zukunft wich einer heiteren Gelassenheit. Das Wesentliche steckte in jedem einzelnen Tag, in dem, was er für einen bereithielt – darauf galt es sich einzustellen! Nicht auf das Gestern oder das Morgen. Die Vergangenheit war tot und die Zukunft, das, was kommen mochte, unvorhersehbar. Das Heute galt es zu riechen, zu schmecken und zu erleben. So wie sie sich an diesem Tag über das Getriebe des Marktes und die Strahlen der Morgensonne freute, die Leben verhießen. Ein Strahlenkranz, der sich wie ein Netz über die Erde legte, Wärme spendete und die Nacht in ihre Schranken wies.
Inken fuhr aus ihren Gedanken hoch, als ein älterer Mann sie anrempelte. Überdeutlich wehte der Geruch von Käse zu ihr herüber. Unwillkürlich musste sie lächeln. Das Heute riechen und schmecken – weshalb also nicht mit Käse anfangen?
Entschlossen bahnte Inken sich ihren Weg durch die Menschenmenge und erstand ein Emder Pfund des stark duftenden Holländer Handkäses . Behände drängte sie sich durch die Stände und kaufte Obst, Gemüse und Brotwaren ein. Mit Genuss hörte sie den Mägden und Hausfrauen zu, die mit den Händlern um Preise feilschten. Ausrufer überboten sich in der Anpreisung ihrer Waren. Das Geklapper von Pferdehufen und Fuhrwerken übertönte zuweilen sogar das Geschrei der Händler und das Zetern der Käufer.
Zufrieden ließ Inken den lebhaften Marktbetrieb hinter sich und spazierte langsam zurück zum Hafen. Dort boten dieFischhändler direkt von den Booten aus ihren Fang an. Es roch – oder besser gesagt, es stank – nach Hering und Aal. Am Nachmittag, würde der Geruch wie eine Glocke über dem Hafen liegen.
Mit leuchtenden Augen und flinker Zunge erstand Inken eine gute Portion Krabben und Fisch. Der Einkaufskorb wog schwer, weshalb Inken beschloss, eine Abkürzung zu wählen, und in eine der schmalen Seitengassen einbog.
Mittlerweile hatte die Sonne den grauen Morgenschleier gelüftet, und es versprach einer der letzten heißen Tage dieses Sommers zu werden. Inken entfernte sich immer weiter vom Hafen, bis die Geräusche der Händler nur noch gedämpft an ihr Ohr drangen.
Plötzlich aber wurden andere Stimmen laut. Gejohle drang zu ihr herüber.
„Sieh zu, dass du wegkommst. Pack wie dich können wir hier nicht brauchen!“
Erschrocken ließ Inken den Korb fallen und blickte sich furchtsam um. Angst stieg für einen Augenblick in ihr hoch. All die Leichtigkeit und das Gefühl unendlicher Freiheit
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