Die Friesenrose
Zeit der Welt, um dich zu entscheiden. Mein Angebot steht auch morgen noch, und dieses Haus wird dir immer offen stehen – ob du nun für mich arbeitest oder nicht!“
Dann, als sei die Sache damit erst einmal vom Tisch, wies sie auf den Einkaufskorb neben der Tür.
„Willst du heute wirklich alleine auf den Markt gehen?“
Inken nickte. „Weißt du, was mir der Weinhändler gestern erzählt hat?“
Tjalda hob fragend die Augenbrauen.
„Die Aufständischen haben alle Franzosen aus Emden vertrieben!“ Inken beugte sich zu Tjalda vor. „Die französischen Wappen wurden von den Wänden gerissen, die Gesetzbücher zerstört und die Papiere der Bürgermeistereien in den Dreck getreten. Kein Mensch muss sich jetzt noch vor den Franzmännern fürchten.“
„Na, wenn Bonné Behrends das erzählt hat, wird es stimmen. Geh also ruhig zum Markt – du hast dich ja schließlich lange genug verstecken müssen.“ In ihre Augen trat ein hoffnungsvollesLeuchten. „Wenn Napoleon jetzt wirklich die Segel streichen muss, dann wird auch Cirk bald wieder hier sein.“
Inken hörte die Freude in ihrer Stimme. Die Geldverleiherin wusste, dass Cirk ihr ins Moor gefolgt war, doch mehr hatte Inken ihr nicht erzählt, und Tjalda hatte trotz ihrer Neugierde keine Fragen gestellt. Nun seufzte sie. „Er ist wie ein Sohn für mich. Als Halbwüchsigen habe ich ihn von der Straße geholt. Cirk hat mich beeindruckt, mit seinem Mut und der unaufdringlichen, aber beharrlichen Forderung, ich solle ihm Arbeit geben. Schließlich tat ich es. Die anderen haben mir prophezeit, er werde schon nach zwei Tagen mit den Tageseinnahmen auf und davon gehen. Aber ich habe mich auf ihn verlassen und bin nicht enttäuscht worden. Wenn er nur schon wieder da wäre!“
Auch Inken erlaubte sich für einen Augenblick, an Cirk zu denken. In aller Deutlichkeit sah sie sein Gesicht vor sich und träumte davon, sein Gesicht zu berühren, seine Stimme zu hören, ihm nahe zu sein. Hätte sie ihm damals in der Dorfkirche nur einen Kuss geschenkt, und vielleicht sogar noch mehr! Wieder und wieder hatte sie sich jede Einzelheit ihres Gespräches vor Augen geführt. Und noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie ihrer beider Worte, zu zweit in der Dunkelheit, nicht zu viel Bedeutung beigemessen hatte. Gewissheit würde ihr nur eine weitere Begegnung mit Cirk bringen, der sie mit ihrem ganzen Sein entgegenfieberte. Doch noch war es nicht so weit! Um sich abzulenken, wechselte sie rasch das Thema.
„Es heißt, dass kein Beamter Napoleons mehr in Ostfriesland sei. Was ist eigentlich aus Hugues, dem französischen Zöllner, geworden?“
„Du meinst aus dem Ditzumer Hugues?“ Tjalda schmunzelte.„Er hat sich ja von Anfang an sehr heimisch bei uns gefühlt und gleich mit einem ostfriesischen Mädel, der Trientje, angebandelt. Nach Frankreich zieht ihn nichts zurück, im Gegenteil! Vor drei Monaten ist er Vater einer Tochter geworden. Das Kind heißt Henriette Metje. Henriette nach dem französischen Großvater und Metje nach der ostfriesischen Großmutter. Du siehst, es kann zu durchaus fruchtbaren Beziehungen zwischen Franzosen und Ostfriesen kommen. Als vor einigen Tagen alle Franzosen aufgefordert wurden, sich mit Schiffen nach Delfzijl bringen zu lassen, hat beim Verlesen der Namenslisten ein anderer an seiner Statt „Hier!“ gerufen. So fiel keinem auf, dass Hugues in Ostfriesland geblieben ist. Vorsichtshalber ist er jedoch untergetaucht, und angeblich weiß niemand, wo er sich aufhält.“
Tjalda beugte sich zu Inken vor, zwinkerte ihr zu und wisperte: „Es gibt da eine alte Hütte im Moor namens Aantennüst , Entennest. Das Gehöft gehört Trientjes Familie, und ich glaube, da hat sich ein französischer Erpel versteckt.“
Inken musste lachen. Es gab wirklich nichts, was Tjalda nicht wusste.
„Aber statt mit mir alter Frau zu schwätzen, solltest du dich lieber auf den Weg machen.“ Auffordernd wies die Geldverleiherin zur Tür, und Inken sprang gehorsam auf und griff nach dem Korb und der Geldbörse.
„Alte Frau, dass ich nicht lache. Deine Energie reicht noch immer für zehn!“
„Bring Fisch mit, damit ich meine Energie behalte“, rief Tjalda ihr nach.
Inken trat aus dem Haus und verlangsamte ihre Schritte. Als sähe sie alles zum ersten Mal, nahm sie das Bild der geraden, gepflasterten Straßen, die gepflegten Häuser mit den geschmückten Giebeln und die kleinen Gärten konzentriert insich auf. Das Rathaus mit seiner prächtigen
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