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Die Friesenrose

Die Friesenrose

Titel: Die Friesenrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Oltmanns
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verloren sich. Mit wildem Blick suchte sie nach den Verfolgern.
    Ein Stein traf sie an der Wange und ließ sie aufschreien. Auf einmal sah sie weiter unten auf der Straße drei schmutzige Burschen stehen, die ihr höhnisch entgegenlachten. Erneut hoben sie Steine vom Boden auf und wogen sie in ihren Händen. Trotz der Furcht, die ihr die Beine lähmte, sondierte Inkens Verstand im Bruchteil weniger Sekunden, was in ihrer Lage wohl am besten wäre. Zum Hafen zurückrennen oder den Burschen entgegentreten?
    Schließlich gewann ihr Temperament die Oberhand. Was fiel diesen Kerlen überhaupt ein? Kaum waren die Franzosen fort, glaubten diese halbwüchsigen Bengel, sich aufspielen zumüssen! Und dann noch zu dritt gegen eine wehrlose Frau! Aber nicht mit ihr! Die sollten sie kennen lernen. Sie hatte nicht drei Jahre im Moor überstanden, nur um sich von einigen milchbärtigen Jungen Angst einflößen zu lassen! Entschlossen wandte Inken sich den Burschen zu. Angriff war immer noch die beste Verteidigung.
    Doch noch bevor sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzten konnte, begriff Inken, dass sich der Angriff der Halbwüchsigen gar nicht gegen sie gerichtet hatte.
    „Wir wollen hier keine Schlitzaugen.“
    Die Worte galten einer Chinesin, die eng an eine Wand gepresst im Schatten eines Baumes stand. Sie war klein und zierlich. Einer der Steine hatte sie offensichtlich getroffen, denn Blut tropfte aus einer Wunde an ihrer Schläfe. Obwohl die Burschen zu allem fähig schienen, blieb das Gesicht der Chinesin so ausdruckslos wie eine Maske. Keine Gefühlsregung zeichnete sich darauf ab, und das schien die Halbwüchsigen erst recht in Rage zu versetzen.
    „Lasst sofort die Frau in Ruhe, oder ...“
    „Oder was?“ Die Burschen lachten unverschämt, und als hätten die Angreifer sie erst jetzt wahrgenommen, wandte sich einer von ihnen in ihre Richtung. Die anderen bewarfen die Chinesin erneut mit Steinen.
    Die Frau sank an der Mauer zu Boden, und ein Päckchen entglitt ihrer Hand. Als Inken diesen Akt sinnloser Grausamkeit verfolgte, konnte sie nicht länger stillhalten. Sie sprang vor und rannte ungeachtet der Gefahr den Burschen entgegen. Einer von ihnen wollte sich auf sie stürzen, doch in diesem Augenblick bog ein Pferdefuhrwerk in die schmale Gasse ein. Die beiden Männer auf dem Kutschbock durchschauten die Situation mit einem Blick. Und dank des entschlossenen Ausdrucks auf ihren Gesichtern und der erhobenen Peitschein der Hand des einen Kutschers suchten die Burschen unaufgefordert das Weite. Vor Inken kam die Kutsche zum Stehen.
    „Sind Sie verletzt?“
    „Nein, mir geht es gut. Doch diese Frau ist verletzt worden. Ich werde mich gleich um sie kümmern.“ Inken wies auf die Chinesin, die noch immer am Boden kauerte. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Erleichterung stand Inken ins Gesicht geschrieben, „Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wären Sie nicht aufgetaucht.“
    Der Kutscher lüftete den Hut. „Diese Burschen werden immer dreister. Wenn sich nicht bald jemand für Lumpereien dieser Art zuständig fühlt, wird die Stadt noch zu einem Raufplatz verkommen!“
    Er schnalzte mit der Zunge und fuhr davon.
    Inken eilte zu der verletzten Frau und wollte ihr hochhelfen, doch die Chinesin streifte behutsam ihre Finger ab. Langsam und bedächtig erhob sie sich. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen hatte einen elfenbeinfarbenen Teint. Das Haar war mit Kämmen und Nadeln aufgesteckt. Ihre mandelförmigen Augen glichen schwarzen Kohlestückchen, und als sie die Stimme erhob, klangen ihre Worte wie Musik.
    „Diese unwürdige Frau dankt für die Hilfe.“
    Mit gesenktem Kopf und geradem Rücken verneigte sie sich vor Inken. Dann hob die Chinesin langsam das Haupt und blickte ihr ins Gesicht. Für einen Augenblick verschwand die Ausdruckslosigkeit darin und machte offensichtlichem Erstaunen Platz. Mit einer Hand ergriff sie eine Strähne von Inkens Haar.
    „So leuchtend wie glühende Kohlen“, murmelte die Chinesin, „wie fließendes Feuer.“
    Ihr Lächeln war sanft und erhellte ihr Gesicht wie ein verirrter Sonnenstrahl. Obwohl die Frau nicht mehr jungwar, konnte Inken kein Grau in dem ebenholzschwarzen Haar ausmachen. Die Chinesin schob ihre Hände in die Ärmel des weiten roten Gewandes, das mit Goldfäden durchwirkt war. Unbewusst trat sie einen Schritt in die Sonne. Ihr schlanker Körper bewegte sich voller Anmut und verlieh ihr zusammen mit der Kleidung etwas Vornehmes, Königliches. Und wie eine Königin

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