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Die Friesenrose

Die Friesenrose

Titel: Die Friesenrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Oltmanns
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auszuwaschen, sah Inken sich mit großen Augen um. Quer durch den Krämerladen verlief eine Theke. Dunkel gestrichene Holzbalken mit Schubfächern und Regalen, auf denen beschriftete Büchsen standen, reichten vom gefliesten Boden bis unter die Decke. Fach für Fach waren die verschiedensten Lebensmittel und Haushaltsartikel darin einsortiert. Auf dem Boden waren Fässer und Kisten abgestellt. Es gab so gut wie alles hier zu kaufen.
    Über dem bemalten Verkaufstresen schwebte ein bunter Holzdrache, an dessen Unterseite Haken befestigt waren, an denen wiederum griffbereit einige Messgeräte und Papiertüten hingen. Auf dem Tresen standen eine große Waage und Gläser mit Bonbons.
    In einer Ecke des Zimmers, etwas abgetrennt vom Verkaufsraum, befand sich ein gekachelter Kamin. Daneben standen ein paar verschnörkelte Holzstühle um einen niedrigen Tisch. Ein würziger Geruch stieg Inken in die Nase, und während sie schnupperte, betrat Sumi wieder den Raum.
    „Wonach riecht es hier?“
    „Das sind die Kräuter für einen Magenbitter, die so duften.“ Trauer lag in Sumis Stimme. „Der hoch geschätzte Mann dieser Chinesin mischte die Zutaten für den Emder Aufräumer selbst. Der Schnaps fand guten Absatz, zumindest bis zu Willems Tod vor einigen Wochen.“
    Inken schwieg einen Augenblick betroffen. Sie wandte sich zu Sumi um.
    „Ich wollte keine leidvollen Erinnerungen wecken.“
    Diese schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. „Das Herz dieser Frau ist zwar traurig, doch die Erinnerung an ihrenverstorbenen Mann nicht leidvoll. Er hat, unter großen Schmerzen, lange auf seinen Tod gewartet, den er zuletzt wie einen Freund begrüßt hat.“ Sie seufzte. „Doch die Einsamkeit ist schwer zu ertragen.“
    Inken hob den Kopf. „Mein Vater wusste ein Gedicht über das Schicksal, in dem viel Wahrheit liegt und das mir stets ein Trost war.“ Sumi blickte sie erwartungsvoll an. Zuerst zögerlich, doch dann klar und deutlich flossen die Worte aus Inkens Mund und ließen sie beide über die unterschiedlichen Wege des Schicksals nachdenken.
    „Du musst lernen, mit deinem Schicksal zu leben!
    Teile deine Zeit nicht ein ,
    plane nicht, zähle nicht die Tage .
    Alles geschieht, wie es geschehen soll .
    Du musst lernen, mit deinem Schicksal zu leben!
    Lehne dich nicht auf ,
    nicht gegen den Wind, nicht gegen das Meer .
    Das Unvermeidliche lässt sich nicht hindern .
    Du musst lernen mit deinem Schicksal zu leben!
    Umarme die Zeit ,
    genieße den Wind, genieße das Meer .
    Lass das Unvermeidliche geschehen -
    und werde Teil des Lebens!“
    Die Chinesin zeigte keinerlei Gefühlsregung, doch Inken spürte, dass Sumi Trost aus ihren Worten zog.
    Dankend neigte sie den Kopf. „Noch kann diese Frau die Zeit nicht umarmen, noch hadert sie mit ihrem Schicksal. Dabei weiß diese untröstliche Frau jetzt, dass die gemeinsameZeit zweier Menschen nur ein Geschenk ist. Man kann nicht erwarten, das, was man besitzt, auch behalten zu können. Man kann nicht erwarten, immer gute Zeiten zu haben. Auch eine Rose blüht nicht hundert Tage! Jeder Augenblick ist nur ein Teil allen Werdens und Vergehens. Manchmal muss man etwas hergeben, um Neues zu gewinnen. Manchmal muss man Abschied nehmen, um anzukommen! Die Natur zeigt uns, dass Leben Veränderung ist. Der Übergang vom Frühling in den Sommer, vom Herbst in den Winter ist sein Atem und der Beweis des Lebens überhaupt.
    Wenn man wie zwei Teile eines Ganzen war, ist die Trauer besonders groß. Was bleibt nach dem Abschied? Was kann ein halber Mensch mit sich anfangen? Vielleicht danach trachten, dass der Geliebte nicht ganz verloren geht, dass etwas von ihm lebendig bleibt. Diese Kruiderrie war wie ein Kind für den Mann dieser Chinesin, und sie hat ihm versprochen, den Laden weiterzuführen. Ein Versprechen, das sie nicht halten kann, denn die Kunden bleiben aus. All die Jahre hat der verehrte Mann hinter dem Tresen gestanden, und nun sieht diese Frau mit Verbitterung, dass die Menschen ihr, die sie so lange an seiner Seite war, immer noch misstrauen. Eine Fremde wird niemals den Weg zu den Herzen der Ostfriesen finden!“ Sumi wandte ihr Gesicht ab, und Inken sah, wie sie sich mit der Hand kurz über die Wange fuhr. Für einen Augenblick überließ die Chinesin sich ihrem Schmerz und ihrer Enttäuschung. Dann aber fuhr sie mit leiser Stimme fort: „Die Lebensmittel verderben, und das Geld für neue Ware fehlt. Wozu auch etwas erwerben, das danach doch niemand kauft?“ Sie schüttelte

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