Die Friesenrose
lehnte sich behaglich zurück.
Der herbe Geruch des Getränks umfing Inken, und der Mandelkuchen auf den Tellern brachte ihren Magen zum Knurren. Sumi lachte leise und wies auffordernd auf den Kuchenteller.
Inken maß sie mit einem neugierigen Seitenblick. „Eine Chinesin in Ostfriesland – das ist so ungewöhnlich wie Schnee im Sommer. Willst du mir nicht erzählen, was dich hierher geführt hat? Ich werde derweil meinen knurrenden Magen füllen.“ Sie griff nach dem Teller.
Sumi legte den Kopf auf die Seite. Ihr Gesicht war ernst. „Was bringt eine Chinesin nach Ostfriesland? Was hat die Macht, einen verwurzelten Baum aus seiner vertrauten Erde und ureigensten Umgebung zu reißen? Diese Macht hat nur die Liebe. Sie kann es vollbringen, dass im Sommer Schneekristalle fallen und im Winter die Kirschbäume blühen. Nursie kann bewerkstelligen, dass eine Chinesin dem Mann ihrer Liebe in seine Heimat folgt.“ Anmutig beugte sich Sumi vor und griff nach ihrer Schale Tee. „Er brachte die Frau, die er liebte, zunächst nach Amsterdam, doch nur für kurze Zeit. Danach zog es ihn hierher nach Emden, um eine Kruiderrie nach holländischem Vorbild zu eröffnen. Es war eine gute Entscheidung. Willem stand Tag für Tag hinter dem Tresen, und die Menschen liebten ihn – genauso wie die Chinesin. Doch sie blieb für die Emder immer eine Fremde!“ Sumi seufzte.
„Hast du es je bedauert, deine Heimat verlassen zu haben?“ Inken betrachtete die Chinesin gespannt.
„Nein“ – ein sanftes Lächeln legte sich auf Sumis Gesicht –, „nicht wirklich. Es war anfänglich nicht einfach, hier zu leben. Immer sehnt sich das Herz nach seiner Heimat zurück. Alles war so fremd und erschreckend. Diese Endlosigkeit – nur Grün, so weit das Auge reichte. Wogendes Gras, das sich bis zum Himmel erstreckte. Oft klammerten sich Herz und Geist an die Wolken, um der endlosen Weite zu entrinnen, als wären sie schwerelos. Nur das Gewicht des Körpers verhinderte, dass diese traurige Chinesin sich wie ein Papierdrache in die Lüfte erhob und höher, immer höher stieg. In der ersten Zeit flog sie in ihren Träumen manchmal bis nach China, und nur die Liebe machte Ostfrieslands Kälte erträglich. Ostfrieslands Kälte und die endlose Weite, der ewig raue Wind und die schroffen Stimmen der Menschen. Hier schien es nichts Liebliches und Zartes zu geben, nichts Sanftes und Reines. Alles war hart und unerweichlich.
Später wurde es noch schlimmer. Es kamen die langen kalten Wintertage und die stürmischen Gewalten des Wassers, dessen Kraft und Unberechenbarkeit einen das Fürchten lehren.“ Sumi nahm einen langen Schluck und seufzte. „Dochdann eines Tages schlug die Ablehnung für dieses Land in Liebe um. Und so, wie diese Chinesin den Holländer, diesen einstmals fremden Mann, lieben gelernt hatte, so verliebte sie sich in das raue Land. Denn man liebt ja nicht nur das an einem Menschen, was man verstehen kann. Man liebt auch das, was ihn ausmacht und einem manchmal sinnlos scheint. Man liebt das ganze Wesen eines Menschen. Und so kam es, dass auch die Liebe dieser Chinesin mit der Zeit dem ganzen Wesen Ostfrieslands mit all seinen Schroffheiten galt. Und diese Liebe ist geblieben. Hier sitzt eine Chinesin, eine Fremde in einem fremden Land, und doch gehört ihr Herz hierher.“
Nachdenklich blickte Inken Sumi in die Augen. Konnte die Kraft der Liebe wirklich so stark sein? Unwillkürlich tauchte Cirks Gesicht vor ihr auf, und plötzlich wusste Inken, dass es allein sein Bild in ihrem Herzen gewesen war, das sie die Jahre im Moor hatte überstehen lassen. Ein protestierender Laut kam über ihre Lippen, der Sumi aufschauen ließ. Mit fragenden Augen musterte sie Inken, doch diese schob den ihr unerwünschten Gedanken zur Seite.
„Wie konnte es eigentlich geschehen, dass du dich in einen Holländer verliebt hast? Wie konntet ihr euch überhaupt verständigen?“
Sumi lächelte, und Trauer umwölkte ihren Blick. „Daran trägt der verehrte Vater dieser Chinesin die Schuld. Er war einer der holländischen Dolmetscher. Die Co-Hongs , die Teehändler, bedienten sich seiner, um Verträge schließen zu können. Obwohl diese Chinesin ganz in der chinesischen Tradition aufwuchs, war sie für ein Mädchen sehr wissbegierig. Als ihr sehr verehrter Vater eines Tages erkrankte und lange Zeit das Bett hüten musste, begann er seiner Tochter zum Zeitvertreib Holländisch beizubringen. Die Teehändler hörten davon, und nun durfte auch die junge
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