Die Friesenrose
ist alles möglich! Diese Chinesin ist der Beweis!“
Sumi beugte sich zu Inken vor. „Doch diese schlechte Gastgeberin erzählt und erzählt, während der Tee kalt wird. Tee ist etwas Zartes, Wundervolles an Duft und Geschmack. Er wischt die Sorgenfalten von der Stirn und lässt, was den Sinn verdunkelt, in ruhiger Gelassenheit zerfließen. Teetrinken ist wie ein Lächeln über die Rastlosigkeit des Lebens, über die Torheit der Ungeduld.“
Inkens Hände umfassten die dünnwandige Schale und spürten für einen Moment der Wärme nach, während sich ihre Augen an der bernsteinbraunen Farbe satt tranken. Der Atem des Tees, sein feiner herber Geruch, umhüllte sie wie eine Wolke und ließ Sumis Geschichte lebendig werden. Schließlich goss Inken das Getränk in die hochwandige Untertasse, trank einen Schluck – und vergaß alles um sich herum. Verzückt schloss sie die Augen und gab sich dem Genuss des leicht bitteren und doch süßen Getränkes hin. Wann hatte sie zum letzen Mal solch einen guten Tee getrunken? Inken schüttelte unbewusst den Kopf. Sie konnte sich nichtmehr erinnern. Hatte sie überhaupt jemals einen so guten Tee getrunken? Und so, wie sie am Morgen den Tag mit all ihren Sinnen gefühlt hatte, fühlte sie jetzt das Leben selbst. Es schien mit jedem Schluck durch ihre Adern zu fließen. Der Tee tränkte die Wurzeln ihrer Seele und rief Visionen hervor. Visionen, die Inken die Augen aufreißen ließ.
Ihre Reaktion ließ Sumi wissend lächeln. „Nicht wahr – eine gute Schale Tee gibt einem die Träume zurück!“
Inken spürte, dass die Begeisterung für den Tee eines der Dinge war, die sie verband. Welche Träume schenkte er Sumi? Vielleicht Visionen von vielen verschiedenartigen Menschen, die einträchtig beieinandersaßen und Tee tranken? Bilder tauchten vor ihren Augen auf. Sie selbst stand hinter dem Tresen des Krämerladens und verkaufte lächelnd Waren, während eine anmutige Sumi von Tisch zu Tisch eilte und Tee einschenkte. Eine Sumi, die nicht beschimpft wurde. Eine Sumi, der dankbare Blicke galten, weil sie einen so herrlichen Tee zubereiten konnte. Sollte so etwas möglich sein? War dieses Bild vielleicht die Antwort auf Tjaldas Frage, was sie, Inken, mit ihrem Leben und ihrem Geld anfangen wollte? Staunend öffnete Inken den Mund, um Sumi davon zu erzählen. Diese neigte lächelnd den Kopf, und Inken hatte den Verdacht, dass die Chinesin Gedanken lesen konnte. Jedenfalls schien sie kein bisschen überrascht, als Inken ihr von ihrer Vision erzählte.
„Das hätte dem geliebten Mann gefallen.“ Ein leichtes Beben lag in Sumis Stimme. „Und dieser unwürdigen Frau gefällt es auch!“
Inken fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. „Ich bin ganz durcheinander. Noch heute Morgen wusste ich nicht, wie mein Leben weitergehen soll, und nun schießen mir tausend Pläne durch den Kopf. Alles nur, weil ich dir begegnetbin und du einen so wunderbaren Tee zubereiten kannst.“
„Ja, der Tee mag seinen Anteil daran haben“ – Sumi goss erneut ein –, „doch dieses Zusammentreffen war kein Zufall. So wie es kein Zufall war, dass eine Chinesin mit dem Tee nach Ostfriesland kam. Niemand kann seiner Bestimmung entrinnen! Das Schicksal gleicht einem Fluss auf dem Weg zum Meer. Unausweichlich fließt es ihm entgegen. Selbst dann, wenn man den Lauf seines Schicksals ändern will, wenn ein zerstörerisches Verlangen den Fluss zum Anschwellen bringt, so dass er sich außerhalb seines Bettes ergießt. Man meint einen neuen Weg gefunden zu haben, einen, der anders und besser ist, doch letztendlich ergießen sich alle Flüsse ins Meer, denn das Meer ist Anfang und Ende!“
„Und unser Schicksal ist der Tee, Sumi.“ Inken sprang auf.
„Es wird kein leichter Weg sein. Die Menschen misstrauen einer Fremden.“
„Doch einem guten Tee werden sie nicht widerstehen können. Und wenn die Ostfriesen erst einmal etwas in ihr Herz geschlossen haben, dann ist es für immer.“ Ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf Inkens Gesicht aus. „So wird es ihnen mit dem Tee gehen und mit dir, Sumi!“ Sie tanzte durch den Raum. „Und nicht wahr – du wirst dafür sorgen, dass sie den besten Tee bekommen, den es in Emden jemals gegeben hat!“
Heimkehr
Inken lief, nein, sie rannte fast den gesamten Weg zu Tjaldas Haus zurück. Wie schwer der Einkaufskorb wog, nahm sie kaum wahr. Ihre Gedanken drehten sich nur um Sumi undden Krämerladen. Ob Tjalda auch so begeistert sein würde wie sie?
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