Die Friesenrose
erfahrene Seemänner würden auf einer so langen Fahrt mehrmals seekrank.“
„Die Reise in ihre neue Heimat war vielleicht die schönste Zeit dieser Chinesin auf Erden. Es schien, als ob die Götter die Fahrt gesegnet hätten. Weder griff ein Sturm nach dem Schiff, noch geriet es in andere Unannehmlichkeiten. Kein Besatzungsmitglied erkrankte, kein Pirat interessierte sich für die Fracht, und es gab immer genug Nahrung und Wasser. Für eine kleine Weile war das Leben ein Paradies. Die Fahrt war eine ganz besondere, so sah es auch der Kapitän des Schiffes. Er nannte diese unbedeutende Chinesin ,kleine Klabauterfrau‘ und glaubte, mit ihr würde seine Melissa unter einem guten Stern fahren.“ Sumi schloss mit einem verklärten Ausdruck die Augen, und als sei es gestern gewesen, sah sie alles mit verblüffender Klarheit wieder vor sich, spürte förmlich das Gleiten des Schiffes durch das ständig wechselnde Blau des Meeres, das sich in Silber verwandelte, wo der Rumpf seine Spur ins Wasser pflügte. Wie die Farben der Himmelskuppel mit dem Indigo der See am Horizont verschmolzen und das Schiffmit den Wellen um die Wette zu laufen schien. Das Summen der Takelage im Wind klang wie die vibrierenden Saiten eines Instruments und erinnerte ein wenig an Klänge aus China. Wenn sie doch die Farben Chinas auch nur so deutlich vor Augen hätte. Sumi seufzte und wandte sich entschlossen wieder den Freunden zu.
„Ach, es war so wundervoll, im Schoß dieses Schiffes einem fernen Ziel entgegenzufahren“, wiederholte sie noch einmal. „Diese unerfahrene Chinesin, die nur Landfahrten kannte, konnte sich nicht sattsehen am Meer. Und sie konnte sich nicht genug an dem Gefühl grenzenloser Freiheit, das sie niemals zuvor gekannt hatte, erfreuen. Doch dann war die Reise zu Ende, und das Schiff legte im Amsterdamer Hafen an.“
Beim letzten Satz hatte Sumis Tonfall an Begeisterung verloren. Wie sie damals alles an Amsterdam erschreckt hatte! Allein schon der Hafen, gesäumt von einem Wald aus Schiffsmasten. Durch Deiche abgetrennt, waren einige künstliche Inseln erreichbar. Bereits während der Reise hatte Sumi von den ausgelagerten Salzsiedereien, den Seilereien und Ankerschmieden, Schiffswerften und Lagerhäusern gehört, die auf ihnen untergebracht waren. Aber dies alles mit eigenen Augen zu sehen war noch einmal etwas ganz anderes! Sumi hatte auch davon gewusst, dass die Stadt selbst auf Stelzen gebaut war. Aber wie hätte eine Chinesin sich Amsterdam vorstellen sollen mit all seinen Bewohnern, die wie Vögel in den Baumwipfeln lebten? Grachten durchzogen die Straßen der Stadt, die dem Meer abgerungen worden war, mit Hunderten von Brücken. Die Kanäle waren die Lebensadern Amsterdams, Transportwege zwischen Hafen, Lagerhäusern und dem Markt der Stadt. Vom Hafen bis zum Dam , dem zentralenHandelsplatz und Herzen der Stadt, verlief ein Ausläufer der Amstel , der Damrak genannt wurde. Der Dam hatte der Stadt ihren Namen gegeben. Er war Schauplatz von Festen und Märkten, Aufständen und Hinrichtungen. Aber all dies hatte Sumi erst später erfahren. Auf ihren ersten Wegen durch die Stadt hatte sie nur immer wieder den Blick nach oben gerichtet, denn keines der Häuser mit den verzierten Giebeln glich dem anderen. Wie Perlen auf einer Schnur reihten sie sich aneinander.
Damals, am Tag ihrer Ankunft, war sie jedoch wie betäubt gewesen und hatte keinen Gedanken an die Schönheit der Gebäude verschwendet. Viel zu sehr hatten die Menschen der Stadt sie erschreckt. Sie schienen weder Sanftmut noch leise Töne zu kennen. Sumi hatte lange beobachtend an der Reling gestanden. Niemals zuvor hatte sie irgendwo ein geschäftigeres Treiben gesehen. Reiche Kaufleute, auffallend gekleidet, standen zwischen Bettlern und Taschendieben. Matrosen, ihre Mädchen am Arm, schlenderten umher und gaben sich in aller Öffentlichkeit dem Kosen und Küssen hin. Am Kai standen Kutschen und warteten auf Kunden. Straßenverkäufer liefen vorbei und boten laut schreiend Obst und Gemüse an. Schiffe wurden be- und entladen, Männerflüche und Kommandorufe drangen an Sumis Ohren. Frauen sah sie, die mit ihren Kindern zeterten, Jungen, die sich wie Hunde balgten, und Mädchen, die widerspenstig an den Händen ihrer Mütter zerrten. Und zu allem malten das schrille Gekläff der Vierbeiner und die Rufe der Straßenhändler ihre Melodie. Ein buntes Bild alltäglichen Hafenlebens, doch im Vergleich zu Amsterdam wirkte Sumis Heimat wie ein im Schlaf sich
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