Die Friesenrose
oder sang manchmal auch, doch am liebsten erzählte sie mir Geschichten. Meist aus ihrem Leben, aber wir reisten auch in fremde Welten. Ich saß im Schneidersitz zu ihren Füßen und lauschte.“
„Warte.“ Inken unterbrach sie. „Wie sah deine Großmutter aus? Ich muss das wissen, damit ich mir alles genau vorstellen kann.“
„Wie Rosa aussah?“ Tjalda kniff die Augen zusammen und überlegte kurz. „Rosa trug stets ein bodenlanges dunkles Kleid und eine schwarze Haube auf dem weißen Haar. An Jahren war Rosa, wie gesagt, schon alt, doch ihre Lebendigkeit verlieh ihrer Erscheinung etwas Zeitloses. Mit ihrem runden Gesicht, den roten Wangen und der kleinen, spitzen Nase sah sie eigentlich eher unauffällig aus. Doch ihre Augen funkelten wach, und wenn sie erzählte, dann tat sie es mit Händen und Füßen. Rosa stand niemals still. Ihre Lebensfreude riss andere Menschen mit sich.
Meine Großmutter war zwar klein und spindeldürr und wirkte, als könne der leiseste Windhauch sie zu Boden werfen, doch sie war von zäher Natur. Lange, harte Jahre in einem heruntergekommenen Viertel, noch dazu an der Seite eines brutalen und versoffenen Ehemannes, hatten sie gestählt. Ihr allein ist es zu verdanken, dass mein Vater als Kind nicht verhungerte oder vom eigenen Vater totgeschlagen wurde. Ihr Mann, der ja mein Großvater war, fand aufgrund seiner Trunksucht keine Arbeit mehr, und so ist es Rosa gewesen, die die ganze Familie versorgt hat. Sie arbeitete in einem hochherrschaftlichen Haus als Köchin. Manchmal erzählte sie mir von dieser Zeit. Allerdings erst, als ich schon kein kleines Mädchen mehr war. Davon, dass sie in einem winzigen feuchten Loch mit gerade einmal zwei Zimmern gelebt hatten, die beide nach Norden gingen und in denen es daher nie hell um sie herum geworden war.
„Doch glaub mir‘, meinte sie dann, ,wenn abends mein Mann vom Saufen heimkam, wurde es erst richtig finster.‘ Rosa behauptete, es sei der größte Fehler ihres Lebens gewesen,dass sie ihn geheiratet habe. Mit ihrer gesamten Familie hatte sie sich wegen ihm entzweit. Und ihre größte Sorge war stets, dass mir irgendwann das Gleiche passieren könnte. ,Pass nur ja auf, Tjalda, dass du nicht bei einem Mann schwach wirst, der es nicht wert ist‘, ermahnte sie mich. ,Dein Großvater war so gut aussehend und charmant, in dunklen Ecken stets aufs Küssen versessen. Alles wusste und konnte er – wenn man ihm Glauben schenkte – besser als andere. Und dabei war er so ein schwacher Mensch.’
Mein Großvater hatte, als er Rosa kennen lernte, noch als Matrose gearbeitet und sie in seine Heimatstadt Bremen, weit fort von ihrem Zuhause, gebracht. Das Leben dort schilderte er ihr in glühenden Farben und sie glaubte ihm blind. Sie fiel so tief, dass der Stolz es ihr verbot, zu ihren Eltern zurückzukehren. Auch nach der Geburt meines Vaters wagte sie diesen Schritt nicht. ,Es hätte ihnen das Herz gebrochen, mich so zu sehen‘, sagte sie einmal zu mir. ,Ich wollte sie nichts von den vielen Nächten wissen lassen, in denen ich vor Sorgen nicht schlafen konnte. Sorgen um die Miete, die es zu zahlen galt, und das Essen. Und dann lag da neben mir jede Nacht dieser Kerl, dieser unnütze Schuft, und schlief selig seinen Rausch aus. Natürlich brauchte er Geld für den Schnaps. Von mir bekam er freiwillig nichts. Und wenn er mir drohte‘, erzählte sie einmal, ,dann griff ich nach der Waffe unter meinem Rock. Doch wenn ich die Wohnung verlassen musste, um Besorgungen zu machen oder arbeiten zu gehen, dann fehlte immer wieder etwas bei meiner Rückkehr.‘ Mein Großvater, machte zu Geld, was nicht niet- und nagelfest war. Aber als der Siebenjährige Krieg auch bei ihnen Einzug hielt, kam Rosas große Stunde. Am Tag zuvor noch hatte mein Großvater Rosas einziges gutes Kleid heimlich gegen Schnaps eingetauscht. Großmutter war immer außer sich, wenn sie davonerzählte. ,Ich wünschte ihm damals mit aller Macht die Pest an den Hals’, sagte sie einmal zu mir. Doch die brauchte es nicht mehr. Großvater wurde eingezogen und fiel gleich an seinem ersten Tage beim Heer betrunken vom Pferd. Er war sofort tot, und Rosa und mein Vater waren frei.“
Tjalda seufzte. „Ich glaube, niemand weinte diesem Mann eine Träne nach. Und endlich blieb von dem Geld, das Großmutter verdiente, genug übrig, damit mein Vater zur Schule gehen konnte. Er lernte wohl leicht, und im Laufe der Jahre wurde das Leben für die beiden immer besser. Rosa beschloss, das
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