Die Friesenrose
schon lange tun sollen. Weißt du, Inken, eigentlich ähneln sich unsere Schicksale. Du glaubst gar nicht, wie sehr.“ Für einen Augenblick hatte ihre Stimme einen bitteren Tonfall angenommen. „Vielleicht fühlte ich mich auch deshalb gleich von Anfang an so tief mit dir verbunden, als du zu mir kamst, um dein Geld anzulegen. Du hast Böses im Moor erlebt, und ich ...“ Sie brach ab, fing sich aber wieder. „Lass mich mit meiner Kindheit beginnen. Inken, wir beide haben viel Zeit unseres Lebens damit verbracht, auf Menschen zu warten, die wir lieben, und unsere Mütter sind zu früh gestorben. Obwohl ich die meine kaum vermisst habe. Vielleicht zählt deshalb das Bild meiner Großmutter, die mit einer Kelle Suppe aus einem riesigen Topf schöpft, zu meiner frühesten Kindheitserinnerung. Rosa, wie ich sie nannte, zog nach dem Tod meiner Mutter zu uns nach Bremen. Ich habe immer gedacht, dass sie meine Mutter wäre, obwohl Rosa schon damals nicht mehr jung war. Allenfalls war sie jung im Kopf und blieb es auch zeit ihres Lebens. Bei manchen Menschen ist das so. IhrKörper wird alt, aber das Herz, der Verstand und die Augen bleiben jung.“
Inken nickte und lächelte. „So wie bei dir, Tjalda.“
Diese schüttelte nur den Kopf. „Ich werde nie so jung sein, wie Rosa es war. Dazu nehme ich das Leben viel zu schwer. Rosa war dagegen leicht und lebensfroh, was auch immer geschah. Vielleicht, weil es nichts gab, was diese Frau noch erschüttern konnte. Auch nicht die Tatsache, dass mein Vater die meiste Zeit seines Lebens auf See verbrachte. Als Kind habe ich immer am kalten Fenster gestanden und zum Hafen geblickt. Ich habe erst die Monate und dann die sich dahinschleppenden Tage gezählt, bis Vater endlich zurückkehrte. Die Wochen sind mir wie Jahre vorgekommen und die Monate wie Jahrzehnte. Am Schönsten war es, wenn mein Warten schließlich belohnt wurde. Vater fuhr als Kapitän über alle Weltmeere, aber an Land gehörte er nur uns alleine. Rosa und ich lebten für diese Zeiten, in denen wir drei vereint waren.“
„Diese Chinesin kann das gut nachfühlen. Wie sehr hat sie, damals in China, auf die Rückkehr ihres Geliebten gewartet!“
Auch Inken nickte und schloss die Augen. „Und ich auf die Heimkehr meines Vaters. Wie habe ich sein Kommen stets herbeigesehnt. Er war alles, was ich hatte!“
„Für mich gab es glücklicherweise immer noch meine Großmutter. Vater versuchte sie jedes Mal zu überreden, ihre Arbeit als Köchin aufzugeben. Doch Rosa liebte es, die Suppenkelle zu schwingen. In der Nähe des Bremer Marktes hatte sie eine winzige Küche, Teil einer kleinen Schankstube, gemietet, in der sich die Kunden mit einer Mahlzeit eindeckten, nachdem sie sich zuvor in der Gaststube das dazu passende Getränk ausgesucht hatten. Früh am Morgen schon kaufte Rosa die Zutaten für ihre ständig wechselnden Suppen auf dem Markt oder deckte sich aus unserem Garten ein. Das Gemüsewar bereits geputzt, wenn ich aufstand. Nach dem Frühstück machten wir uns dann auf den Weg in die Stadt. Seit ich laufen konnte, stand ich jeden Tag mit ihr in der kleinen Küche und verkaufte Suppe. Scharen von Menschen besuchten uns, und viele kamen regelmäßig. Immer hatten sie ein gutes Wort für mich, und es war mir damals, als habe das Leben mir einen besonders guten Platz auf Erden zugeteilt. Die Kunden redeten und lachten miteinander. Derbe Sprüche machten wieder und wieder die Runde. Meine Großmutter, die mit der Kelle in der Hand ihre Suppe austeilte, lächelte nur wohlwollend dazu.
Von Weitem hörten wir den Lärm der Stadt. Die Rufe der Marktschreier wurden ab und an von dem Hufgetrappel der Pferde auf dem Kopfsteinpflaster und dem Rollen der Kutschenräder übertönt. Die Geräuschkulisse hatte für mich immer etwas Beruhigendes. Und wenn wir dann nach einem langen Tag unsere Sachen wieder auf den Karren geladen hatten und nach Hause fuhren, gaben die Händler, an denen wir vorbeizogen, uns gute Wünsche mit auf den Weg, und Rosa und ich fühlten uns wie Könige, denen man huldigte. Aus allen offenen Wirtshaustüren, aus Fenstern und sogar von Dächern winkten die Menschen uns grüßend zu und riefen unsere Namen. Wir beide gehörten zur Stadt und zu den Menschen, die in ihr wohnten.
Mir gefiel es, Rosa mit anderen zu teilen, aber am meisten liebte ich die Stunden, in denen wir beide ganz alleine zusammensaßen. Im Sommer auf der Bank vor dem Haus, im Winter am warmen Feuer. Rosa summte dann vor sich hin
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