Die Friesenrose
war, das den einen hierhin den anderen dorthin trieb. Das Sumi von China nach Emden reisen ließ, während es sie, Inken, ins Moor geführt hatte. Und felsenfest war sie auch davon überzeugt gewesen, dass es ihrbestimmt war, Cirk zu treffen. Inken starrte blicklos auf den Tassenboden, den eine kleine Muschel zierte. Diesen Glauben hatte sie mittlerweile verloren. Aber nun stieg wieder sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Bilder, sie beide, Hand in Hand, am Strand.
Inken biss sich auf die Lippen. Würde der Schmerz denn nie vorübergehen? Nein, sie wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken! Sie war hier, in der Teestube, gemeinsam mit Sumi und Tjalda. Die Kruiderrie und das Getränk in ihrer Hand, das war nun ihr Leben. Sie streifte zuerst Sumi und dann Tjalda mit einem liebevollen Blick. Was wohl die ältere Freundin nach Ostfriesland verschlagen haben mochte? Aufmerksam betrachtete Inken das Gesicht, in dem die Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten. Und noch bevor sie überlegen konnte, hatte sie die Worte auch schon ausgesprochen.
„Tjalda, du weißt so viel, doch du sprichst kaum jemals von dir selbst. Magst du uns, während wir hier so gemütlich unseren Tee trinken, nicht ein wenig aus deinem Leben erzählen.“
„Och.“ Tjalda machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was soll so ein altes Weib wie ich schon zu erzählen haben? Meine Geschäfte sind nicht sonderlich interessant, und Liebschaften pflege ich keine.“
Inken lachte. „Tjalda, du bist eine der ungewöhnlichsten Frauen hier in Emden, und das weißt du auch. Und wenn ich deine ketzerischen Reden über die Männer höre und deine Kleidung sehe“ – Inken maß mit einem langen Blick Tjaldas Hosen –, „dann möchte ich zu gerne wissen, wo all dies seinen Ursprung hat und wie du zu der Frau geworden bist, die nun vor mir sitzt. Geldhändlerinnen fallen nicht vom Himmel.“
„Wer die Schuld an meinem losen Mundwerk und an meiner untypischen Kleidung trägt, willst du wissen?“ Tjaldas Augen blitzten vergnügt. „Nun, den fehlenden Respekt vor allem und jedem brachte mir meine Großmutter bei. Und Rock und Haube verloren ihren Reiz für mich, als ich erkannte, dass ich es im von mir verlangten so genannten ,guten weiblichen Benehmen‘ niemals weit bringen würde. Das war nach den Jahren in der Töchterschule.“
„Töchterschule?“ Sumi riss verwundert die Augen auf.
Auch Inken lachte ungläubig. „Du warst auf einer Töchterschule? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
„Glaub mir.“ Tjaldas Tonfall war mehr als trocken. „Ich konnte mir das damals auch nicht vorstellen, als der Vorschlag von meinem Vater kam. Aber es blieb uns keine andere Wahl, Inken.“
„Mag diese gute Freundin uns nicht davon erzählen?“, fragte Sumi bittend.
„Mmh? Mein Leben war nicht so amüsant, wie ihr es euch vielleicht vorstellt. Aber“ – sie zögerte einen Moment, zuckte dann jedoch die Schultern – „warum eigentlich nicht? Es ist ja noch früh am Abend. Wartet kurz, ja?“ Tjalda erhob sich und kehrte wenig später mit drei Bechern und einer Flasche Wein im Arm zurück. „Mir reicht der Tee nicht. Ich muss mir erst etwas Mut antrinken.“ Sie goss ihnen von der goldgelben Flüssigkeit ein und nahm dann einen großen Schluck. Als Inken schon glaubte, ihre Freundin habe es sich doch anders überlegt, tat diese einen langen Atemzug und begann.
„Wisst ihr, ich bin nicht sicher, ob ich in alten Erinnerungen schwelgen möchte. Manch einer verklärt die Dinge im Laufe der Jahre, aber so ein Mensch bin ich nicht. Ich habe Fehler gemacht, die aus heutiger Sicht kaum verzeihbar sind. Es mag sogar sein, dass ihr mich verurteilen werdet, wenn ihrdavon hört. Vielleicht widerstrebt es mir deshalb, in der Vergangenheit zu rühren. Doch andererseits“ – sie zuckte die Schultern – „andererseits wärt ihr dann nicht die Menschen, die ich in euch sehe.“
Inken beugte sich vor und umfasste Tjaldas Arm. „Nach den Jahren im Moor und allem, was dort geschehen ist, bin ich die Letzte, die über andere ein Urteil fällen dürfte. Und glaub mir, was immer du auch getan hast, es wird nichts an meiner Meinung über dich ändern.“
Sumi sah Tjalda fest in die Augen. „Wenn es der Freundin zu schwer fällt, über die Vergangenheit zu sprechen, dann ist es vielleicht ratsamer, in der Gegenwart zu bleiben.“
„Nein.“ Tjaldas Stimme klang nun fest und entschlossen. „Ich werde euch gern alles über mich erzählen. Ich hätte es
Weitere Kostenlose Bücher