Die Frühreifen (German Edition)
du, die Situation hier wird nicht besser. Das hilft ihr bestimmt nicht, etwas klarer zu sehen, nicht wahr? Weißt du, manchmal ist sie nicht mehr ganz bei Trost, die Arme. Sie ist wirklich mit den Nerven fertig.«
»Hör zu, André. Hör mir bitte einmal zu. Wir sollten uns da nicht einmischen. Laß uns Evy in Sicherheit bringen, und ansonsten müssen sie selbst sehen, wie sie zurechtkommen.«
»Was ist denn mit dir los? Bist du am Ende deiner Kräfte? Gibst du auf?«
Jetzt die Arme sinken zu lassen, nachdem sie sich ihr ganzes Leben lang eingesetzt hatten, war das etwa eine Lösung? Was für einen Sinn sollte das haben? Keinen. Absolut keinen. Die Arme sinken zu lassen half gar nichts. Wollte Rose ihm damit vielleicht andeuten, daß er genug getan hatte, daß er etwas Ruhe verdiente – als wäre ihr in einem lichten Moment klar geworden, was für Qualen er insgeheim ausgestanden hatte, um eine Familie zu gründen –, daß er es verdient hatte, sich endlich auszuruhen? Versuchte sie ihm vergebliche, schmerzhafte Anstrengungen zu ersparen? Aber auf was für einem Planeten lebte sie bloß, Herrgott noch mal? Was für einer Gehirnwäsche war sie ausgesetzt worden?
Wenn er sich solchen Gedanken hingab, spürte er manchmal, wie das Alter plötzlich triumphierte – wie ihn Fäulnis und Schwäche überkam – und sich in all seinen Gelenken verbreitete, und dann zog er den Kopf ein.
Was Laure anging, so war sie tatsächlich seit praktisch vierundzwanzig Stunden nicht mehr nüchtern geworden – und hatte auch nicht geschlafen, denn der junge Schauspieler, ihr heißblütiger Partner, hatte die Nacht in ihrem Schlafzimmer verbracht und war erst im Morgengrauen weggefahren –, und sie hielt sich nur noch dank einer ungeheuren Willensanstrengung auf den Beinen, außerdem hatte sie zur Mittagszeit zwei Tonedron eingenommen und noch mal welche, bevor sie sich auf die zweiunddreißigste Wiederholung einer Nacktszene konzentrierte, die am Rand eines öffentlichen, stark gechlorten Schwimmbads stattfand, wo sie bis auf die Knochen durchgefroren war und vor Kälte gebibbert hatte.
Sie machte die schlimmste Phase durch, die sie je erlebt hatte, daran zweifelte sie nicht im geringsten. Körperlich und seelisch. Richards Verschwinden hatte ihr einen harten Schlag versetzt, das wußte sie, und obwohl sie alles versucht hatte, Arbeit, Sex, Yoga, Medikamente und Alkohol, hing sie noch immer auf dumme, ärgerliche, unverständliche und traurige Weise an ihm. Sie ging in ihrem Zimmer ruhelos auf und ab, zerkratzte sich die Arme, biß sich auf die Lippen, aber so war das nun mal, sie konnte nicht anders, sie konnte sich zwar sagen, daß sie einem Fluch zum Opfer gefallen war oder was auch immer, aber das Ergebnis ließ sich nicht leugnen.
»Komm, jetzt übertreib’s aber nicht«, sagte Judith Beverini zähneknirschend. »Du hast durchaus das Recht, ein bißchen sentimental zu sein. Im übrigen ist das gar nicht so schlecht. Aber dabei darfst du trotzdem nicht vergessen, daß Richard eine alte Sau ist, okay?«
Und jetzt rannen Tränen über ihre blassen Wangen, denn inzwischen waren ihre Gedanken bei Lisa angelangt. Das Bild ihrer Tochter fiel vom Himmel herab und tauchte vor ihr auf. So endete das immer. Mehr oder weniger. Und objektiv gesehen änderte sich nichts. Éric sagte ihr immer wieder, daß sie es geschafft habe, daß sie wieder im Sattel säße für einen langen, herrlichen Ritt. »Auf geht’s, dem Firmament entgegen!« prophezeite er ihr und küßte ihr die Hand. Manchmal sah sie ihn mit großen Augen an.
Was erzählte er ihr da? Von was für einer Genugtuung sprach er eigentlich?
Sie hätte gern darüber gelacht, aber sie hatte nicht den nötigen Abstand – oder besser gesagt, sie hatte ihn nicht mehr.
Während der Nachmittag zu Ende ging, sank die Sonne immer tiefer, und Laures Tränen nahmen einen goldenen Schimmer im Abendlicht an, einem wunderschönen warmen, flüssigen Licht, das flach einfiel und den Auftakt zu diesem ziemlich schlecht beginnenden Abend im Spätherbst bildete.
Sie zündete sich eine Zigarette an. Sie vergoß weiter hemmungslos einen Strom stummer Tränen, das war das Beste, was sie tun konnte. Unter uns gesagt.
Dennoch ging sie ans Telefon, als es klingelte. Es war der junge Typ, dieser junge Schauspieler, der wissen wollte, ob sie nicht Lust habe, die Partie fortzusetzen.
»Ich sitze in einer Bar und blicke in meine Hose. Ich bin unheimlich geil, das kann ich dir sagen!«
» Was
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