Die fünf Leben der Daisy West
ich meine Hände in den Schoß zurück. Für Audrey ist der Themenwechsel offensichtlich in Ordnung, denn sie dreht sich um und schaut ebenfalls auf die Wand.
»Meine Mutter lässt mich machen, was ich will«, sagt sie und seltsamerweise klingt es nicht arrogant ... eher traurig. Sie senkt den Blick und starrt auf ihre Füße. Wieder entsteht eine kurze Pause. Doch dann, als ich gerade anfange, mich unwohl zu fühlen, hebt sie ruckartig den Kopf und sieht mich an. »Möchtest du übrigens etwas trinken?«
»Gern«, antworte ich, dankbar, dass sie nicht doch noch mehr über die Adoption wissen will.
»Normale Limo oder Light?«
»Normal.«
»Gut, ich bin gleich wieder da«, verkündet sie und steht auf, bleibt dann aber in der Mitte des Zimmers stehen. »Soll ich Musik anmachen?«
»Gern.«
Audrey geht zum Schreibtisch. Als sie davorsteht, schüttelt sie schnaubend den Kopf. Ich überlege, worüber sie sich wohl ärgert, frage aber nicht nach, weil es mir zu aufdringlich vorkommt. Stattdessen sehe ich mich weiter um, während sie auf ihrem Laptop iTunes öffnet, eine Playlist auswählt und die kleinen Lautsprecher aufdreht.
»Ist das okay?«, will sie wissen.
»Wunderbar.«
»Gut, dann bin ich gleich wieder da.«
Audrey lässt mich allein in ihrem Zimmer zurück. Ich mache esmir noch ein bisschen bequemer im Sessel und stelle einmal mehr fest, wie gemütlich es in diesem Haus ist. Für ein Mädchen ohne Wurzeln wie mich ist »gemütlich« fast mit »geborgen« gleichzusetzen.
Einer meiner aktuellen Lieblingssongs erklingt, und auf einmal fühle ich mich so gut, dass ich nicht anders kann: Ich singe laut mit.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
8
Im Türrahmen bewegt sich etwas. Sofort breche ich den (schrillen) Gesang ab und lasse die gerade noch hoch erhobenen Arme sinken. In der Erwartung, Audrey zu sehen, blicke ich auf, doch dort steht niemand anderes als der Typ, den ich die ganze Woche im Englischkurs angeschmachtet habe: Matt Irgendwas.
»Krasses Luftschlagzeug«, bemerkt er mit einem leichten Lächeln, was mich ganz nervös macht. Seine dunklen Augen blitzen. Er wirkt durchaus erfreut, mich zu sehen.
»Danke«, erwidere ich und mir fehlen die Worte, weil ich mich die ganze Zeit frage, warum er hier ist. Ist er Audreys Freund? Oder ein alter Kumpel, der spontan vorbeigekommen ist? Dann bemerke ich, dass er nicht nur barfuß ist, sondern auch im Türrahmen lehnt, als hätte er ihn gebaut. Erst jetzt macht es bei mir Klick. Er lebt hier.
Ja klar.
Matt ist Audreys Bruder.
»Du solltest mal meine Luftgitarre erleben«, witzle ich etwas verspätet, erleichtert, das Rätsel gelöst zu haben. »Die ist so richtig cool.«
»Am besten hat mir eigentlich der Gesang gefallen«, erwidert Matt, dieses Mal mit einem breiten Grinsen. »Der hohe Ton am Ende war einfach genial.« Mit der Rückseite des Zeigefingers reibt er sich über das Kinn, was irgendwie sexy wirkt.
»Ja, ich weiß, ich bin phänomenal«, sage ich und hoffe, dass ich entspannter klinge, als ich mich fühle.
Er hält beide Daumen hoch. »Der Plattenvertrag ist dir sicher.«
Wir lachen beide, danach herrscht für einen Moment Stille zwischen uns.
»Ich bin Daisy«, stelle ich mich vor, für den Fall, dass er mich nicht erkennt. »Wir haben zusammen Englisch.«
»Ich weiß«, antwortet er sofort und schaut auf den Boden. Dabei lächelt er, als wäre es ihm peinlich, dass er so schnell reagiert hat. Dann sieht er mich wieder an. »Ich wusste gar nicht, dass du mit meiner Schwester befreundet bist.«
»Unsere Schließfächer sind fast nebeneinander«, erkläre ich. »Dort haben wir uns kennengelernt. Sie hat einen Bruder erwähnt, aber ich wusste nicht, dass du es bist.«
»So ist es aber.« Matt nickt und schiebt die Hände in die Taschen seiner abgetragenen Jeans. Ich habe den Eindruck, dass er gerade innerlich ein Gefecht austrägt, weil er eigentlich gern bleiben würde, aber das Gefühl hat, er sollte lieber gehen.
»Audrey holt gerade etwas zu trinken«, teile ich ihm mit, nur um irgendetwas zu sagen. Ich hoffe, dass er bleibt, solange ich rede. Zumindest für die nächste Minute funktioniert es.
»Wie hast du bei dem Test abgeschnitten?«, fragt er.
»War gut«, antworte ich.
Wieder nickt er. »Bei mir auch.«
Einen leicht unbehaglichen, aber nichtsdestotrotz wunderbaren Moment lang sehen wir uns in die Augen. Ich fühle mich wie in der neunten Klasse, als ich in Bio ein Referat
Weitere Kostenlose Bücher