Die fünf Leben der Daisy West
Das hört sich so lecker an, dass ich die gleiche Mischung nehme. Als wir uns an einem Tisch am Fenster niedergelassen haben, prüft Audrey ihr Handy.
»Wann musst du zu Hause sein?«
»Um fünf«, antworte ich und nippe an meinem Kaffee.
»Okay, dann haben wir noch Zeit.«
Audrey blickt noch immer auf ihr Telefon und ich nutze die Gelegenheit, um das Thema erneut auf Matt zu bringen.
»Warum hat Matt dein Telefon genommen?«, erkundige ich mich. Sie verdreht genervt die Augen.
»Weil er ein Idiot ist.«
Ich hebe fragend die Augenbrauen und sie fährt fort: »Er hat aus Versehen seine ganze Musik auf mein iPhone geladen und nicht auf sein eigenes. Es hat ewig gedauert und jetzt ist er zu faul, es noch einmal auf sein eigenes zu laden. Deshalb nimmt er andauernd meins, wenn er kann. Einfach nur supernervig.«
»Er hat es heute zurückgebracht, als ich allein in deinem Zimmer war. Ich glaube, er denkt, dass ich ihn verpetzt habe.«
»Ich hatte es sowieso schon selbst gemerkt«, erwidert Audrey.
»Ich glaube, er ist sauer auf mich.«
»Glaube ich nicht.«
»Er wirkte aber so«, sage ich stur.
Audrey nippt an ihrem Kaffee. »Meinst du, weil er sich so übertrieben bei dir bedankt hat?«, fragt sie lächelnd.
»Ja genau.«
»Ach, das war reine Schikane. Glaube ich zumindest. Ich bin mir bei ihm in letzter Zeit manchmal nicht so sicher.«
»Was meinst du damit?«, hake ich nach und merke, dass das wohl als Frage Nummer Drei zählt.
»Ach nichts«, antwortet Audrey enttäuschenderweise. »Irgendetwas scheint ihn zu beschäftigen.«
Danach schweigt sie und hat ganz offensichtlich keine Lust, weiter über ihren Bruder zu sprechen. Ich würde mich am liebsten selbst treten, weil ich alle Fragen zu Matt bereits aufgebraucht habe. Durch das Fenster schaue ich auf die Kunden, die mit Buggys und Einkaufstaschen vorbeischlendern. Aus den Augenwinkeln nehme ich einen Mann neben einem Blumenkasten wahr. Er trägt ein blaues Button-Down-Hemd und Jeans und scheint auf jemanden zu warten. Seltsamerweise schaut er genau in meine Richtung, als ich ihn ansehe. Einen Moment lang betrachtet er mich wie ein neugieriger Fremder, dann wendet er den Blick ab, zieht sein Handy aus der Tasche und beginnt, darauf zu tippen. Ich frage mich, ob er wohl seiner Frau oder Freundin eine SMS schreibt, um ihr zu sagen, dasssie sich beeilen soll. Eine Sache beunruhigt mich jedoch: Er hat den gleichen roboterhaften Blick, den ich von Cassie kenne und den auch alle Agenten in der Reinigungstruppe haben.
Plötzlich klingelt mein Handy. Es ist Mason.
»Alles in Ordnung?«, erkundigt er sich.
»Ja, wir sind gerade im Shopping Center. Warum fragst du?«
»Nur so. Hast du deine Karte bei dir?«
»Ja«, sage ich. Er meint die Bankkarte, mit der ich auf mein Taschengeld-Konto zugreifen kann.
»Das ist gut, dann noch viel Spaß.«
Klick.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
9
Für genau fünf Tage ist mein Leben so normal, dass ich fast vergesse, wie falsch es im Grunde ist. Am Montag winkt Matt mir am Anfang der Englischstunde zu. Am Dienstag fragt er mich, wie es mir geht – von der anderen Seite des Klassenraums aus, bevor der Unterricht beginnt –, woraufhin mindestens drei Mädchen, die zwischen uns sitzen, vor Neid erblassen. Jeden Tag, außer am Mittwoch, als sie einen Termin hat, verbringe ich die Mittagspause zusammen mit Audrey, entweder in der Cafeteria oder außerhalb der Schule. Obwohl die anderen sie in den Gängen grüßen, bin ich anscheinend Audreys einzige Freundin. Wir schreiben uns jeden Abend SMS und sie beginnt sogar, mein Blog zu verfolgen.
Donnerstagabend schreibt sie mir:
Deine Analyse über die Besucher eines Einkaufszentrums ist super.
Danke!
Gern. Und deine Freundin Fabelfrau ist wirklich witzig.
So ist Megan. Du würdest sie auch mögen.
Mein Leben fühlt sich langsam so an wie eine Sitcom zur besten Sendezeit.
Am Freitag zeigen sich erste Risse. Der Morgen ist noch in Ordnung, aber in der Mittagspause geht es los. Audrey und ich gehen zu dem Taco-Imbiss in der Nähe der Schule, wo es am Freitag ein besonderes Angebot gibt: zwei Taco-Shells mit Pommes, Soße und einem Getränk. Wir haben kaum aufgegessen, als Audrey auf die Toilette rennt und sich übergibt (ich höre es, weil sich unser Tisch gleich daneben befindet). Doch als sie zurückkommt, leugnet sie es.
»Mein Gott, alles in Ordnung?«, frage ich, als sie sich wieder setzt. Ihre braunen Augen sind glasig
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