Die fünf Leben der Daisy West
sagt sie.
»Sieht super aus«, murmele ich. »Hast du das Zimmer selbst eingerichtet?«
Audrey nickt stolz und lächelt.
»Mir macht so etwas auch Spaß«, sage ich.
»Cool.«
Eine Pause entsteht und ich überlege fieberhaft, worüber wir reden könnten. Offensichtlich habe ich schon jetzt rein gar nichts mehr zu erzählen.
Audrey scheint dieses Problem zum Glück nicht zu haben.
»Dein Vater scheint ein interessanter Mensch zu sein«, sagt sie.
Ich sehe sie erstaunt an. »Ach ja?«
»Aber ja, doch«, erwidert sie. »Er spricht mit dir wie mit einer Erwachsenen.«
»Stimmt.«
»Und krieg jetzt bitte keine Krise, aber ich finde, er sieht gut aus«, fährt Audrey fort.
»Mir wird schlecht«, witzle ich und tue so, als müsste ich mich übergeben.
Audrey lacht. »Ich bin mir sicher, dass du das öfter hörst«, fährt sie fort. »Er sieht aus wie George Clooney ... nur nicht so alt.«
»Ist mir noch nie aufgefallen, aber du hast recht. Irgendwie ist da etwas dran.«
»Total. Dein Teint ist deutlich heller. Wahrscheinlich siehst du eher deiner Mutter ähnlich.«
»Vielleicht«, antworte ich und zu spät wird mir bewusst, was ich gerade gesagt habe. Als Audrey mich komisch ansieht, ermahne ich mich innerlich, achtsamer zu sein. Einige Dinge kann ich erzählen, andere nicht.
»Ich bin adoptiert worden«, bekenne ich, was zu großen Teilen stimmt. Was ich verschweige, ist, dass ich bereits eine Waise war, als ich bei dem Busunfall starb. Dass sie nicht wussten, was sie mit mir tun sollten, als ich auf staatliche Anweisung wieder zum Leben erweckt worden war und dass Mason schließlich damit betraut wurde, dauerhaft ein Kind großzuziehen ... oder zumindest bis ich achtzehn werde. Dass die Adoption technisch gesehen nicht legal ist, weil mein wahres Ich vor elf Jahren in Bern, Iowa, gestorben ist.
Audrey jedoch findet die Sache offenbar sehr spannend. »Wirklich?«, hakt sie nach und sieht mich mit großen Augen und leuchtendem Blick an.
»Hmm«, antworte ich.
»Ich kenne niemanden, der adoptiert wurde«, sagt sie. »Hast du es denn schon immer gewusst oder haben sie dir jahrelang etwas vorgespielt und dich dann damit überrascht, als deine leibliche Mutter eine neue Niere brauchte oder so etwas?«
Lachend antworte ich: »Ich habe es immer gewusst. Wie du selbst bemerkt hast, mein Vater behandelt mich wie eine Erwachsene. Meine Mutter genauso. Wir haben keine Geheimnisse.« Zumindest nicht voreinander. Ich kratze mich an der Nase, aber als mir einfällt, dass einige Agenten behaupten, durch diese Geste würde man sich leicht verraten, lege ich die Hände schnell wieder in den Schoß.
»Verstehe«, antwortet Audrey und scheint nichts zu bemerken. »Aber fragst du dich manchmal, was aus deinen leiblichen Eltern geworden ist?«
»Eigentlich nicht«, antworte ich ehrlich.
»Echt nicht? Ich glaube, mich würde das interessieren.«
»Ich sehe es so: Leute, die mich nicht kennenlernen wollten, will ich auch nicht kennenlernen. Das soll jetzt nicht verbittert klingen. Ich nehme an, dass sie ihre Gründe hatten. Aber ich will meine Energie nicht darauf verschwenden, mir den Kopf über Leute zu zermartern, die in meinem Leben nicht vorkommen.«
»Wahrscheinlich ist das eine gute Einstellung«, befindet Audrey. »Du gehst unglaublich vernünftig mit der Sache um.«
»Danke«, antworte ich lachend und lege den Kopf zur Seite, »ich glaube nicht, dass mich jemals zuvor jemand als ‚vernünftig‘ bezeichnet hat.«
Audrey kichert und trotz der ständigen Sorge, mich versehentlich zu verplappern, genieße ich es, dass jemand nach meiner Vergangenheit fragt. Ich gehe so sehr in dem Gespräch auf, dass ich auf Audreys Frage, wie alt ich war, als meine Eltern mich adoptierten, gleich noch einmal mit der Wahrheit herausplatze:
»Vier.«
»Und wo hast du vorher gelebt?«
In meinem Kopf schrillen Alarmglocken und ich merke, wie ich die Armlehnen umklammere. Aus praktischen Gründen ist es sinnvoll, nicht damit hinterm Berg zu halten, dass ich adoptiert bin. Wenn zum Beispiel in der Notaufnahme die Blutgruppen meinerEltern nicht zu meiner passen oder so. Laut Skript bin ich allerdings direkt nach der Geburt adoptiert worden. Bei wem ich vorher gelebt habe, ist nicht Teil der Geschichte.
»Ich komme gar nicht darüber hinweg, dass deine Mutter dir erlaubt hat, eine ganze Wand mit Tafelfarbe anzustreichen«, versuche ich abzulenken und blicke über Audreys Kopf hinweg auf die schwarze Fläche. Gleichzeitig zwinge
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